Zeugenschaft // Theater

Zeugenschaft im Theater – Die Praxis des Bezeugens im Gegenwartstheater

In zwei Texten versucht Oliver Franke die Diskrepanz zwischen Lebenswirklichkeit und ihrer ästhetischen Aufbereitung im Theater zu beleuchten. Ausgehend von dem Hörspiel „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz und Nicolas Stemanns Inszenierung „Die Schutzbefohlenen“, fokussiert er schwerpunktmäßig Aspekte der Fiktionalisierung und der Zeugenschaft. Wesentliche Impulse für das Thema der Zeugenschaft entstammen u.a. der Podiumsdiskussion „Theater als zeitgenössische Zeugenschaft“, die Rahmen des Fassbinder-Schwerpunkts am 08.05.15 stattfand.

„Und als ein Augenzeuge, nicht auf fremdes Wort
Bericht ich euch, o Perser, was wir duldeten.“
(Aischylos, „Die Perser“)

Kunst kann nicht anders, sie ist immer politisch. Sie reagiert direkt oder indirekt auf unsere unmittelbare Lebensgegenwart – auf politische Umwälzungen, gesellschaftliche Missstände und auf das Schicksal der Einzelnen als Paradigma für das Schicksal der Masse. Doch wie kann man sich zu dem gegenwärtigen Zeitgeschehen künstlerisch positionieren? Ein Vordringen zur konkreten Lebenswirklichkeit scheint unmöglich – die Bilder der ‚Fremde’ sind und bleiben medialisierte und konstruierte Abbilder einer Realität jenseits unserer eurozentristischen Lebenserfahrung und Vorstellungskraft.

Wir können versuchen, uns anzunähern an diese ‚Lebensrealität’ – völlig durchdringen werden wir sie nie. Es bleibt jedoch unsere Pflicht, immer wieder genau diesen Versuch zu wagen und vor einer künstlerischen Aufarbeitung großer gesellschaftspolitischer Fragestellungen nicht demütig oder ohnmächtig zu werden. Vielmehr müssen die ästhetischen Mittel verhandelt werden, durch die eine künstlerische Annäherung an die unvorstellbaren existenziellen Nöte und humanitären Bedrohungen vorgenommen werden kann.

Das Potenzial von Zeugenschaft

Das Theater sollte sich immer die Frage stellen, wie es sich zu dieser Lebenswirklichkeit in Beziehung setzen kann. Die Figur des Zeugen als gesellschaftliche Rolle ist Teil eines politischen Prozesses der Aufarbeitung wesentlicher gesellschaftlicher Fragestellungen. Sybille Schmidt stellt folgende Definition auf: Der Zeuge verbindet eine Tatsache bzw. Wahrheit mit der eigenen Person. Im juristischen Kontext ist der Zeuge eng verbunden mit dem Prozess der Kontroverse und der Urteilsfällung. Er wird als Beweismittel vor Gericht gezogen und dient als Wissensquelle bzw. Beweismittel für eine spätere Urteilsfällung. Der Zeuge artikuliert Erfahrungen, die für die spätere Rechtsprechung immens bedeutsam sind. Gerade für den Theaterkontext kann die Artikulation von Erfahrungen durch den Zeugen ein wesentlicher Referenzpunkt für eine politische Annäherung sein. Durch das Auftreten eines Zeitzeugen im Theater nimmt der Zuschauer eine ‚Richterposition’ ein. Er wird dazu angehalten, sich selbst ein Bild über das verhandelte Thema zu schaffen. Das Theater ist ein sozialer Raum, in dem die Zeugen und das Publikum in direkten Kontakt zueinander treten können.

Ein Chor bezeugt – Nicolas Stemanns „Die Schutzbefohlenen“

In ihrer Textfläche „Die Schutzbefohlenen“ verschriftlicht Elfriede Jelinek ihre Empörung um die europäische Flüchtlingspolitik zu einem flammenden Plädoyer gegen Ignoranz, unterlassene Hilfeleistung und das Schicksal Tausender inmitten eines Staatenbunds, der nicht nur Träger des Friedensnobelpreises  ist, sondern auch alles in seiner Macht stehende dafür tut, die Mauern der Festung Europa  zu verstärken. Nicolas Stemann sucht nach Mitteln und Wegen, das Schicksal von Flüchtlingen inszenatorisch zu verarbeiten und darstellbar zu machen. Er befasst sich in seiner Inszenierung mit dem Widerspruch zwischen der inszenierten Wirklichkeit innerhalb eines fiktional-ästhetisierten Theaterrahmens und der konkreten Lebenswirklichkeit der verfolgten und abgeschobenen politischen oder religiösen Minderheiten. Wie kann man eine künstlerische Annäherung also legitimieren? Wie kann man dem Schicksal der Menschen in Krisengebieten gerecht werden? Ist dies überhaupt ein Anspruch für das künstlerische Schaffen?

Stemann lässt einen Chor aus Flüchtlingen auftreten, der – neben professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern – für ihr Schicksal und stellvertretend für tausende andere ‚Ungehörte’ vor den Zuschauern im Theater bürgt. Sie legen Zeugnis über ihre konkrete Lebensrealität ab und berichten über ein Leben in permanenter Angst vor der Abschiebung und Ächtung. Die Flüchtlinge als Zeugen etablieren durch ihre Anwesenheit im Bühnenraum eine eigene Realitätsebene innerhalb der Inszenierung. Mit ihnen bricht die ‚Realität’ in die Selbsreflexionsschleife der Inszenierung ein. In ihre Körper ist die Erinnerung an Erlebtes und die unsagbaren Traumata der Fluchtodyssee eingeschrieben. Sie zeichnen sich ab durch Mimik und Gestik, aber auch durch eigene Deklamationspassagen, in denen sie Einblick in ihre Ängste, Erfahrungen und Lebenswünsche geben. Durch die Verschränkung von Zeugenschaft und Inszenierung entsteht eine Aufführungssituation, die das Publikum direkt adressiert. Wie kann sich das Theater zu dieser Lebenswirklichkeit in Beziehung setzen?

Zuschauerschaft // Zeugenschaft

Zeugenschaft muss sich stets Gehör verschaffen. Es braucht ein Gegenüber, durch das das traumatische Erlebte artikuliert und konkretisiert werden kann. Die Augenzeugen, d.h. die ‚Beteiligten’ – als Überlebende oder Opfer von (Staats-)Gewalt – geben ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse an die Zuhörer weiter. Durch das eigene Wort und die eigene Körperlichkeit legitimiert der Zeuge das erlebte Geschehen als Wahrheit vor anderen. Es entsteht eine gegenseitige Teilhabe zwischen Zuhörerin und Zeugin.

Jelinek hebt in ihrem Text hervor, dass wir durch Medienbilder und die Allgegenwärtigkeit von Kameralinsen permanent mit medialisierten Zeugnissen konfrontiert werden, die uns durch objektive Datenströme und Zahlen abstumpfen lassen. Fakten stehen immer in Gefahr, konkrete Menschenschicksale zu überschreiben. Durch die leibliche Anwesenheit von Bezeugenden eröffnet sich dem Publikum die Möglichkeit, konfrontiert zu werden mit den Menschen hinter den abstrakten Zahlen und Daten. Eine Schnittstelle zwischen Zeugenschaft und Theater liegt per se in der gegenseitigen Teilhabe von Bezeugenden und Publikum. Die Theateraufführung als soziale Situation, in der sich Akteure und Zuschauer gegenseitig bedingen und miteinander in direkten oder indirekten Kontakt und Austausch treten, liefert einen offenen Möglichkeitsraum, mit Konzepten der Zeugenschaft künstlerisch umzugehen.

Die Frage der Stunde lautet nicht, ob man Realität auf die Bühne bringen kann, sondern auf welche Art und Weise Gesellschaftsrealität auf der Bühne künstlerisch verhandelt wird. Zeugenschaft im Theater bedeutet eine Legitimierung einer ästhetischen, künstlerischen Aufarbeitung des Unbegreiflichen. Daher ist Zeugenschaft im Theater in den verschiedensten Ansätzen, wie sie z.B. Milo Rau, Volker Lösch, Christoph Schlingensief, Doron Rabinovici und Matthias Hartmann konzipieren und inszenieren, ein immanenter politischer Akt. Sie provoziert eine Situation der Auseinandersetzung mit der Lebensrealität.

Inwieweit Stemanns Inszenierung Zeugenschaft  zur simplen Legitimierung einer künstlerischen Beschäftigung mit der Flüchtlingsdebatte nutzt, wie es einige Theaterkritiken der Inszenierung vorwerfen, oder ein Forum schafft, in der das Zeugnisablegen ein konstitutiver Teil der Annäherung an die Lebenswirklichkeit darstellt, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden und bleibt der Aufführungskritik vorbehalten. Die Verschränkung der Zeitzeugen und dem Jelinektext bleibt jedoch kritisch zu betrachten. Durch die Anwesenheit des Flüchtlingschors, wird auch der Text als legitimes Zeugnis der Flüchtlingstraumata verbürgt. Inwieweit die Perspektive der österreichischen Dramatikerin jedoch die durchlittenen Traumata und die Lebensrealität der Menschen einfängt, bzw. in wie weit sich der Chor repräsentiert fühlt durch den Text, bleibt zu hinterfragen. Die zentrale Frage ist, welche Rolle die Zeugenschaft im Theater einnimmt.

Schließlich ist die Theatergeschichtsschreibung eng verwoben mit dem Bezeugen und führt von den Botenberichten in Aischylos’ Tragödie „Die Perser“, über Bertolt Brechts Grundmodell des epischen Theaters in „Die Straßenszene“ bis hin zu Peter Weiss’ dokumentarischen Theaterinszenierungen wie „Die Ermittlung“.

Zeugenschaft ist ein integraler Bestandteil theatraler Inszenierungs- und Aufführungspraxis und sollte als solcher immer wieder reflektiert werden. Durch die Zeugen kann eine Annäherung an das Unvorstellbare vorgenommen werden und zu einem multiperspektivischen Durchdringen verschiedenster „Realitätsebenen“ im Theater führen.

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Oliver Franke

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