Eingeengt, verloren, frei 

In Extra Life geht es weder um Aliens noch um Vergewaltigungen, sondern um den emanzipatorischen Kampf, die eigene Empfindsamkeit wiederzufinden.

Es ist 05:38 Uhr, zwei liebevoll miteinander umgehende Geschwister haben eine Nacht voller Tanz, Drogenkonsum, Begegnungen und Musik hinter sich. Der Nebel lichtet sich langsam und zeichnet zunehmend die Umrisse des Autos nach, in dem die beiden sitzen. Die Inszenierung thematisiert wenige Momente, für das Publikum werden sie aber auf knapp zwei Stunden gedehnt, so als würde man in das Erlebte reinzoomen. Die Zuschauenden tauchen in unterschiedliche Szenen aufwühlender Gespräche über Liebe, Ängste, Traumata und Albereien ein. Mal sprechen sie mit Wörtern, andere Male mit ihren bewegten Körpern oder einer intensiven Lichtstimmung.

Die beiden scheinen vorerst eine unbeschwerte Zeit miteinander zu teilen. Gemeinsam essen die Geschwister Chips und machen sich darüber lustig, wie im Autoradio die Rede von außerirdischem Leben und Verschwörungstheorien ist. Mehrfach rutschen sie von leichtsinnigen Banalitäten in sehr ernste und beunruhigende Themen hinein, die sie aber immer aufs Neue kurz darauf durch einen Witz von sich „wegschieben“.

Sich abschirmen, um zu überleben

Diese Stimmung wird durch verschiedene Gefühle von Unbehagen immer wieder gestört: Draußen befindet sich eine dritte Person, die lange Zeit nicht von den Geschwistern wahrgenommen wird, die sie mal mehr, mal weniger durch den Nebel sichtbar beobachtet. Schnell wird klar, dass diese Person kein dritter Charakter auf der Bühne, sondern die Verkörperung von etwas Beängstigendem, aber auch Ambivalentem sein soll: Die Geschwister haben einerseits sichtlich Angst vor dieser Person, andererseits umarmen sie diese innig.

Im Laufe des Stückes wird den Zuschauenden immer mehr klar, dass die beiden sexuelle Belästigungen von ihrem Onkel erfahren haben, der verstorben ist. Durch diese prägenden Erfahrungen erlernten sie die Überlebensstrategie, sich emotional abzuschirmen, Orte zu schaffen, in denen sie das Erlebte von sich trennen können. Das wird in abstrakte Bilder übersetzt. Durch das Zusammenspiel verschiedener Laserstrahlen entstehen immer wieder unterschiedlich große Licht-Räume, in denen die Geschwister mal eingeengt, mal verloren und mal frei scheinen. Sie möchten jetzt ihre verloren gegangene Empfindsamkeit wiederfinden. Sie sprechen davon, dass das Verstehen Kraft gibt und Lust zu kämpfen macht. Deswegen wollen sie jetzt begreifen, was ihnen damals genau passiert ist und was das mit ihnen gemacht hat.

Keine fetischisierende Reproduktion von Bildern sexueller Gewalt

Beeindruckend an dieser Inszenierung ist die Aufarbeitung sexueller Gewalt. Es geht nicht um eine fetischisierende Reproduktion, sondern um den emanzipatorischen Kampf Betroffener um eine Aufarbeitung erlebter Traumata. Bis auf einen wenig überzeugenden Moment, in der sich die dritte Person in bedrohlicher Zeitlupe der Kinderpuppe nähert, was die Geschwister verängstigt, findet die Inszenierung abstraktere Bilder für die Gefühlswelten der Betroffenen.

Außerdem ziehen sich stellenweise die eigentlich starken abstrakten Bilder zu sehr in die Länge und lassen einen wundern, wann es endlich weiter geht. Vor allem gegen Ende wiederholen sich die Spannungsbögen, und der Sinn der Wiederholung erschließt sich nicht.

Der Umgang mit Licht zieht in den Bann

Gleichzeitig gibt es Momente, in denen der hypnotisierende Umgang mit Licht einen so in den Bann zieht, dass man Raum und Zeit vergisst. In der letzten Szene tanzen die Geschwister mit der dritten Figur in die Nacht hinein. Eines der Geschwister trägt eine Paillettenjacke, die das Licht kämpferisch in alle Richtungen zurückstrahlt. Die Zuschauenden verlassen den Saal ohne platte Bilder sexuellen Missbrauchs im Kopf, aber mit gewonnener Empathie für Betroffene im Herzen.

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Marta Ivkić

Marta Ivkić hospitierte am Staatstheater Karlsruhe, dem Maxim Gorki Theater und dem Theater an der Parkaue Berlin. Im Juni 2023 fand ihre erste performative Lesung über bosnische Lebensrealitäten und Märchen in der Weissen Rose Berlin statt. September 2023 führte sie eine Recherchereise nach Bosnien und Kroatien durch. 2024 übernimmt sie die Künstlerische Leitung für das Projekt „Dragan, eine*r von Vielen – Ein Abend voller Kunst und Tanz über diasporische Identitäten aus dem Balkan“. Marta arbeitet nebenbei als Dolmetscherin für Deutsch – Bosnisch/Serbisch/Kroatisch an Berliner Krankenhäusern und studiert seit 2021 Kultur und Technik Philosophie an der TU Berlin.

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