Allen ihre Geschichte lassen

Für die einen ist „Herr der Ringe“ geliebter Fantasyepos, andere schauen kritisch auf den Stoff. Das Theater Hora, Das Helmi und das Schauspielhaus Zürich bringen beides zur Geltung. Welcher Geschichte man folgt, darf jede*r selbst entscheiden.

Klären wir zunächst die Sprecherposition: Der Autor dieses Textes hat „Herr der Ringe“ rauf und runter geschaut, keines der Bücher gelesen und reiht sich damit gerne hinter Stephan Stock ein, dem künstlerischen Co-Leiter des Theaters HORA. Wie auch sein Regiekollege Nicolas Stemann steht dieser in „Riesenhaft in Mittelerde“ mit auf der Bühne. Als spontan nachbesetzter Frodo erklärt Stock, dass er die Filme zwar mag, sie heute aber nicht mehr unkritisch schauen kann. Kollege Stemann hingegen wuselt, bevor er sich ans Klavier setzt, in einem langen Pelzmantel durchs Publikum und führt Kartentricks vor. Cooler als Gandalf sei er sowieso und man könne ihn für Veranstaltungen buchen – er brauche jetzt Arbeit, erklärt der scheidende Züricher Intendant mit einem Augenzwinkern.

Wie im Vorfeld angekündigt, liegt die vierte Wand in Trümmern: Die meisten Zuschauer*innen folgen der Einladung, Bühnen-Mittelerde zu erkunden und somit die Inszenierung zu begehen, wohingegen einige andere auf den Tribünen an beiden Enden des Raums Platz genommen haben. Auf der Nebenbühne der Berliner Festspiele hat man um ein kleines Podest – ähnlich einem Mittelaltermarkt – ein paar Stände aufgebaut, einer davon schenkt sogar Bier und Limos aus. Von der Decke hängen lange Ranken aus Schaumstoff, dann und wann segelt ein Schiff durch die flanierenden Besucher*innen, auf dem der Elb Legolas ein paar Passagiere begrüßt – sie dürfen ihn Lego nennen. Im Getümmel verschwimmen Spielende und Publikum, Ordner*innen mit Headsets am Ohr und die Schaumstoffpuppen des Puppentheaters. Nicht immer ist klar, wer jetzt für die großen Bildschirme filmt, die überall verteilt sind, und wer für die eigene Instagramstory. 

Eher Karnevalskostüm als Abermillionen-Dreh

Einige der Kostüme (Sophie Reble) lehnen sich an die Filme von Peter Jackson an. In anderen Fällen behalten die Spielenden ihre Turnschuhe an, tragen Elbenohren aus bemaltem Karton oder Glitzerkapuzen. Vieles sieht mehr nach Karnevalskostüm aus als nach Abermillionen-Dreh (eine Streitaxt ist dann auch mal ein Schaumstoff-L). Und auch sonst scheint man den Fantasy-Klassiker und den darum entstandenen Hype nicht allzu ernst nehmen zu wollen.

Lediglich die HORA-Spieler*innen wenden sich Tolkiens Welt wirklich zu und spielen Feuerdämon wie Heldenfiguren voller Inbrunst. Ihre Kolleg*innen vom Schauspielhaus wirken hingegen eher mit der Dekonstruktion der Heldengeschichte beschäftigt. Der Elbenfürst Elrond (Lukas Vögler) wird dann zur übergriffigen Vaterfigur (dessen Tochter keinesfalls mit einem Menschen zusammen sein kann), Boromir (Felix Loycke) bettelt als muskelprotziger Krieger förmlich um den Heldentod – um an Pathos nur von Aragorn (Der Cora Frost) überboten zu werden, der sich für alles selbst die Schuld gibt und nach kurzem Tragik-Tiefgang seinem Geschlecht nachkommt und ebenfalls zur Waffe greift. Das alles ist in der Vorlage enthalten, wird hier aber auf die Spitze getrieben. Durch diese Überzeichnung driftet man so weit weg vom Klassiker, dass die Kritik an Tolkiens Werk schwer ernst zu nehmen ist.

Eine Einladung zum Mitmischen

Interessanter scheinen da die Zugänge des HORA-Ensembles, aus dem auch die Idee der Fantasy-Adaption kam. Wenn Gianni Blumer in einem der eher modern wirkenden Momente des Originals als Königstochter Éowyn ein Drachenmonster nur töten kann, weil sie eben kein Mann ist, merkt man ein echtes Interesse, weil man zunächst nah am Stoff bleibt. Wenn Blumer, nach dem er auch den sterbenden Vater nachgespielt hat, zärtlich mit den Fingern über die Leinwand streichelt, auf der die entsprechende Filmszene gezeigt wird – um dann die Nase zu kitzeln, an der gerade eine Träne vorbei rinnt, behält auch dieser sich eine ironische Distanz bei. Ohne aber so weit auf Abstand zu gehen, dass das Erzählte nahezu unkenntlich wird.

Der Abend gewinnt gerade ab der zweiten Hälfte, weil dann beide Zugänge ihren Raum bekommen. Dem Publikum bleibt es überlassen, welcher Geschichte es folgen möchte. Natürlich kann man sich auch einfach dem bunten Treiben hingeben, der Musik, dem Spiel und der Kulisse. Schön ist auch, wie nahbar das Theater wird. Im Gedränge beäugen sich Spielende, Zuschauer*innen und auch die, die mit ihren kleinen Notizblöcken schief angeschaut werden. Wer der Einladung zum Mitmischen folgt, hat mehr von dem Abend. Um das Theater in die Zukunft zu hieven, müssen schließlich alle mit anpacken.


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Leonard Haverkamp

Vielleicht liegt es am Salzkräcker, vielleicht bleibt Leonard Haverkamp aber auch die Spucke weg, weil jetzt die ganz große Bühne kommt. Und dennoch freut er sich auf die Rückkehr nach Berlin, das er im Herbst 2023 verlassen hat, um auf Zürich zu gehen (wie man in der Schweiz sagt). Hier studiert er Kulturpublizistik an der Züricher Hochschule der Künste und schreibt als freier Autor für verschiedene Medien. Kritiker ist er so lange wie Theaterbesucher, professionalisiert hat sich das in den letzten Jahren im Schreiben für Nachtkritik und das akut Magazin. Kritik ist Leonard wichtig, denn sie geht in die Interaktion mit dem, woran ihr etwas liegt.

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