Stell dir vor, ein singendes Start-up mit dem Namen „Zeitgeist“ würde alle schlechten Erinnerungen und Traumata aus deinem Körper entfernen. Genau das ist Robert (Damian Rebgetz) passiert – nein: Dafür hat er sich entschieden und sogar viel Geld bezahlt! In Yael Ronens Musical „Bucket List“ erwacht er zunächst ohne jegliche Erinnerungen an sein vorheriges Leben oder ohne sich an den Grund zu erinnern, wieso er seine Vergangenheit vergessen will. Dieser Eingriff bringt eine lästige Folge mit sich: Die Erinnerungen gehen nicht auf Knopfdruck verloren. Die Zuschauenden bekommen den schleichenden Prozess des Vergessens mit, bei dem sich auch traumatische Erfahrungen anderer Menschen mit hineinmischen.
Immer wieder fallen weiße Kleidungsstücke von der Decke zu Boden, die symbolisch für unterschiedliche Erinnerungen stehen. Mal sind es Kleider oder Arztkittel, andere Male Babystrampler. Das Vergessen passiert nicht wehrlos. In einer Szene will sich Robert der von einer Darstellerin gespielten personifizierten Realität widersetzen, die von ihm möchte, dass er seine verstorbene Frau vergisst. Robert fühlt sich schuldig und imaginiert, wie seine Frau ihm vorwirft, sie hätte ihn niemals freiwillig verlassen, er sie aber schon. Gelegentlich wird Dramatisches angedeutet: Strampler, die von den Schauspielenden wie Tote gehalten werden. In einem Lied geht es um abgebrannte Dörfer, Gewalt gegen Kinder und Frauen. Persönliche Konfliktsituationen werden in vielen Szenen thematisiert.
Zwei riesige Monumente werden immer neu zusammengesetzt
Manches erinnert bei dem theatralischen Musical an vorherige Inszenierungen von Yael Ronen: Das Bühnenbild beispielsweise ähnelt dem von „Slippery Slope“, das bereits zum Theatertreffen 2022 eingeladen wurde. Ähnlich sind auch in „Bucket List“ zwei riesige Monumente zu sehen, mit je einem Loch in der Mitte, die über die Bühne geschoben, gedreht und wie ein Puzzle neu zu verschiedenen Formen zusammengesetzt werden. Die vier Schauspielenden wechseln ihre Charaktere so schnell wie ihre Kleidungsstücke, oft sieht sich Robert aber drei singenden Schauspielenden im Arztkittel gegenüber, offenbar vom Unternehmen „Zeitgeist“. Alle vier sind bis auf die Socken ganz in Schwarz gekleidet.
Rechts auf der Bühne befindet sich eine Liveband, die den Abend mit einer Mischung aus Jazz und Pop begleitet. Die Musik komponierte der Songwriter Shlomi Shaban, mit dem zusammen auch „Slippery Slope“ entstanden ist. Projektionen auf die Bühnenbild-Teile untermalen das Geschehen, indem sie mal Großstädte bei Nacht, explosionsähnliche Bewegungsmuster oder vom Himmel fallende Kleidung zeigen. Die projizierte Kleidung wird in Videokassetten-Ästhetik wiedergegeben und auch mal „zurück gespult“.
Ein düsterer Grundvibe
Auch wenn die Erzählung manchmal in humorvolle Episoden abschweift und Lacher im Publikum erzeugt, etwa wenn ein Schauspieler ein Brautkleid über seinen Arm zieht und dann sich und seine Braut in inniger Umarmung spielt, hat „Bucket List“ einen eher düstereren Vibe. Das ist auch nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass Yael Ronen 1976 in eine jüdisch-israelische Familie geboren wurde und die Premiere von „Bucket List“ Anfang Dezember 2023 nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und dem darauf folgenden, immer noch andauerndem Angriff auf Gaza stattfand.
Das Stück beugt sich inhaltlich nicht dem Druck von außen, eine Stellungnahme zum Israel-Palästina-Konflikt zu liefern, sondern bleibt bei dem eigenen Bedürfnis, persönlichen Schmerz, Wut und Wünsche zu äußern. Gleichzeitig gliedert sich das Persönliche an manchen Ecken in einen gesellschaftlichen Kontext ein: Anklagend wird sich nach einer Zeit zurückgesehnt, in der nicht jede*r zu allem eine Meinung haben musste. Nostalgisch provozierend spricht eine der schauspielenden Personen darüber, wie früher die Leute „ihr beschissenes Maul“ hielten, wenn sie nichts zu sagen hatten.
Das Gefühl, alleingelassen worden zu sein
In der Schlussszene schaut Robert seinen auf den Vorhang projizierten Synapsen dabei zu, wie sie in einer steigenden Frequenz schwarz flackern, bis sie völlig von der Dunkelheit eingenommen werden. Mit dem Satz „You never stop“ verabschiedet er sich in ein Blackout hinein. Das Ende kommt abrupt, und es schleicht sich beim Zuschauenden das Gefühl ein, gerade alleingelassen worden zu sein. „Bucket List“ löst vor dem Hintergrund der Lage in Gaza einen verzweifelten Wunsch nach Hoffnung aus: „I wish hope was more like pain“ heißt es in der Inszenierung. Das könnte man so verstehen: Es wäre schön, wenn sich Hoffnung genauso leicht verbreiten ließe wie Leid.