Auf einer Zugfahrt im April

Heute endet der Stückemarkt beim tt09, verliehen werden dann der „Förderpreis für Neue Dramatik“ und der „Werkauftrag des tt Stückemarkts“. Zeit, sich der ersten Lektüreerlebnisse  mit den fünf im Wettbewerb befindlichen Stücken zu erinnern.

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Konzentriert in der Gegenwartsbeobachtung: Stückemarkt-Autoren Sofi Oksanen und Oliver Kluck, im Vordergrund der Intendant der Berliner Festspiele (und Lyriker) Joachim Sartorius. Foto: Jason Kassab-Bachi

Zwischen den Hauptbahnhöfen von Köln und Berlin liegen knapp 500 Kilometer, ein ICE braucht dafür etwas mehr als vier Stunden. Auf dieser Fahrt kann man schlafen, Musik hören, eine Novelle lesen oder auch – ich fahre schließlich zum Theatertreffen – die fünf Stücktexte sichten, die die Stückemarkt-Jury beim tt09 für besonders bemerkenswert erachtet hat. Ich öffne also fünf PDF-Dokumente, von deren erster Seite mir jeweils das Foto-Portrait des Autors entgegenschaut. Ich beginne mangels seriöser Auswahlkriterien freihand mit dem Stück der erkennbar einzigen Frau. Sofi Oksanen nähert sich im Aussehen einem Pandabär mit Dreadlocks. Das verspricht Avantgarde.

Avantgarde is‘ nicht!

Doch spätestens zwischen Wuppertal und Hagen ist klar: Avantgarde is’ nicht! Im Gegenteil: Das ist eigentlich nur dialogisch erzählte Geschichte. Ich frage mich, welchen Mehrwert das Schicksal der 70-jährigen Estin Alide und ihrer Großnichte aus Sibirien durch eine Umsetzung auf dem Theater erlangen könnte. Das ist doch Prosa, denke ich, und in der Tat ist selbst in Oksanens Lebenslauf, den ich nun schnell nachschlage, „Fegefeuer“ in erster Linie als Roman, Bestseller gar, hervorgehoben. 2010 wird er auf Deutsch erscheinen, darauf lohnt es sich zu warten. Das PDF-Dokument mit dem Stück kann ich dagegen – Hagen ist noch nicht einmal erreicht – getrost schließen.

Schlimmer Pubertätsfaktor

Das Vorwort zu Oliver Klucks „Das Prinzip Meese“ klingt da vielversprechender: „Das Prinzip Meese basiert nicht auf einem Zitat von Wittgenstein, es ist nicht Nietzsche, nicht Kant und nicht Frankreich in den Sechzigern. Es ist das Lied, das entsteht, wenn eine Bassgitarre singt …“ Das lässt sich doch hören, da kann der Autor von seinem Autorenfoto noch so sehr runtergucken, als wolle er eine zehnte Klasse in Erdkunde unterrichten. Doch dann, o weh, auf der zweiten Seite der handlungs- und personenbefreiten Textfläche, plötzlich Meta-Kommentaralarm mit schlimmem Pubertätsfaktor: „Das Theater braucht dieses Stück nicht, man kann es nicht abonnieren, es gewinnt keine Nachwuchstheaterpreise.“

Der „Ich habe die Zeichen der Zeit erkannt“-Blick

„Dann halt nicht“, denke ich, und gehe – bei Hamm in Westfalen – mit gebotener Rücksichtslosigkeit zum nächsten Stück über: Aber die „Zwei netten kleinen Damen auf dem Weg nach Norden“ von Pierre Notte schnattern doch arg, außerdem sieht der Herr mittleren Alters auf dem Autorenfoto, laut Lebenslauf in Frankreich bereits „Chevalier des Arts et des Lettres“, nicht so aus, als ob er meiner Aufmerksamkeit bedürfe. So bin ich wenig später – Bielefeld ist noch nicht erreicht – doch bei dem gelandet, bei dem ich nicht landen wollte: Nis-Momme Stockmann heißt der Mann, der für das Autorenfoto modische Bügelkopfhörer um die Schultern gelegt hat, sodass er nun wie ein C&A-Werbekampagnen-Epigone der Hamburger Schule unter seinem Seitenscheitel hervorlugt, mit diesem „Ich habe die Zeichen der Zeit erkannt“-Blick.

Nicht wirklich neu, aber zwingend

Aber sein Stück „Der Mann, der die Welt aß“ ist wirklich gut! Keine Diskussion, das ist gut. Und relevant! Wie da einer gezeichnet wird, der den Kamm der Erfolgswelle verlässt und mit stetig wachsender Passivität die Übersicht über sein Leben – über Job, Familie und seine eigenen Gefühle – verliert, das ist zwar rein formal keine große Innovation, aber in seiner Entwicklung doch sehr zwingend: Man möchte das einfach auf der Bühne erleben; schon allein, um irgendeinen „Charakterdarsteller“ (Bei der szenischen Lesung in der Kassenhalle am Sonntag war es André Jung, aber auch Christian Grashof wäre denkbar) in der Rolle des dementen Vaters „brillieren“ zu sehen, der Linsensuppe in Schränke schüttet, um hinterher die ganze verzweifelte Unschuld des kindgewordenen Alten an die Rampe zu tragen. Herrlich!

Harter Realismus

Was einen Theaterabend dauern könnte, trägt auch als Skript bis kurz hinter Hannover, und danach fällt es schwer, sich noch einmal zur Lektüre aufzuraffen, zumal Markus Bauer vom Autorenfoto blickt wie ein leicht naiver Gutmensch mit Leinenschal. Dass dieser Eindruck täuscht, zeigt gleich die Einstiegsszene seines Stücks „stehende gewässer“: Wo Adoleszente sich Zigaretten auf dem Handrücken ausdrücken, wird harter Realismus gehandelt. Die Welt ist schlecht, die Eltern haben versagt, und die Illusionen sind so was von aufgezehrt, das glaubt man gar nicht.

Vertreibung aus dem Paradies

Und dennoch berührt mich „stehende gewässer“ am meisten: Während bei Stockmann nur einer verzweifelt, verliert sich in Bauers Stück gleich eine ganze Familie. Und während hier eine bedrückende Niedergangsparabel abgespult wird, wird diese dort, durch ständige Zeitsprünge, aufgebrochen: Die hoffnungsfrohe vierköpfige Jungfamilie, die Ende der 1970er in ein geerbtes Haus am See zieht und dort eine Pension eröffnet, wird enggeführt mit dem Bild derselben Familie im neuen Jahrtausend: die Tochter ein Junkie, der Sohn abgestumpft, die Mutter verzweifelt, der Vater ein Schürzenjäger. Das alles erscheint beklemmend real, weil es eine Fabel mit einigem Weltgehalt erzählt – zumindest habe ich als ungefährer Generationsgenosse (OK, zwischen mir und Bauer liegen zehn Jahre, aber hey …) einige Identifikationsflächen: Sie erzählt von der Vertreibung aus dem Paradies, das die alte Bundesrepublik Ende der 1970er gewesen sein muss, als alternative Lebensformen und totale Sicherheit für einen kurzen Zeitraum gleichzeitig möglich schienen.

Gedanke in der S-Bahn: Ob die auch alle schreiben?

Beklommen verlasse ich in Berlin den Fernzug. Habe ich etwas Revolutionäres gelesen? Nein! Aber zwei dramatische Verdichtungstalente ausfindig gemacht. Das ist doch schon etwas. In der S-Bahn sitzen junge Männer mit Seitenscheiteln, zumindest vermute ich Scheitel, erkennen kann ich sie unter den riesigen Kopfhörern kaum noch. Ob die auch alle schreiben?

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Johannes Schneider

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