Bemerkenswert? Kritik an Kritiklosigkeit

„Draußen tobt der Konsens, während ich hier drinnen versuche, Tradition und Anarchie aufrecht zu erhalten,“ sagte Sophie Rois einmal in den „Diktatorinnengattinnen“, einem Stück von René Pollesch. Tobt der Konsens jetzt auch in Bezug auf die TT Auswahl der zehn „bemerkenswertesten Inszenierungen“? Seit sie bekanntgegeben wurde, herrscht überall viel Zustimmung, viele Übereinstimmungen mit dem nachtkritik-Theatertreffen, nur vereinzelte „Ich vermisse aber…“-Kommentare sind zu lesen, verhältnismäßig wenig Kritik wird laut.
Mich beschleicht beim Lesen der meisten Kommentare im Internet ohnehin häufig der Verdacht, dass es vielen Kritikern vor allem darum geht, den eigenen Standpunkt als überlegen zu markieren. Und meist sind diese Diskussionen eher belustigend, manchmal nervend, aber selten produktiv oder irgendwie erhellend. Oder? Denn genauer betrachtet ist die allem zugrunde liegende Ausgangsfrage doch mehr als berechtigt und spannend:
Wer definiert hier was wie und warum?
Und auch alle daran anschließenden Fragen finde ich durchaus stellenswert: Ist das Theatertreffen nicht normativ oder zumindest normierend und ausgrenzend? Ist das nicht elitäres Getue und unnötige Hierarchisierung? Ist das Theatertreffen nicht völlig überbewertet? Ist das Theatertreffen überhaupt zu irgendetwas nutze?
Und vom Theatertreffen ist es auch nicht weit zu Diskussionen über Theater an sich: Welche Tendenzen gibt es im gegenwärtigen Theater? Wie sind diese zu bewerten und sind sie überhaupt zu bewerten? Ist Theater politisch? Ist das wichtig? Sollte Theater politisch sein? Repräsentiert Theater Realität? Lässt sich Realität repräsentieren? Von welcher beziehungsweise wessen Realität ist hier eigentlich die Rede? Oder etwas weniger theorielastig aber umso schwieriger zu beantworten: Was macht gutes Theater eigentlich aus?
Nun, alleine dass das Theatertreffen eben solche Fragen aufwirft, ist doch schon Legitimierung genug, finde ich. Aber ich bin ja auch parteiisch. Gar nicht deshalb, weil ich jetzt selbst dabei sein darf und hier darüber schreiben kann. Naja, doch. Aber ich war auch schon in den letzten Jahren parteiisch. [Obwohl ich nie dabei sein konnte, was mich wieder auf das Stichwort „ausgrenzend“ bringt…] Aber auch wenn ich nie dabei sein konnte, hatte ich etwas davon: Ich konnte viele Debatten vom und über das Treffen und somit über Theater an sich in den Medien verfolgen. Und die meisten Stücke, die zum Theatertreffen eingeladen werden, touren früher oder später mit großer Wahrscheinlichkeit auch mal als Gastspiel durch die Welt. Und alle, die in Gegenden mit einer eher bescheidenen Theater-Szene leben, wissen das durchaus zu schätzen.
Außerdem stellt das Theatertreffen für viele Theaterschaffende ja vor allem ein wichtiges Sprungbrett dar. Die Stücke von Oliver Kluck oder Phillip Löhle hätte ich wohl nie zu sehen bekommen, wenn sie nicht durch das Theatertreffen und den Stückemarkt bekannt geworden wären, genauso wie das beeindruckende Nature Theatre of Oklahoma. Manche Sachen werden manchmal erst bemerkt, wenn sie als „bemerkenswert“ bezeichnet werden. Neuentdeckungen, die mir ansonsten vielleicht nicht über den Weg gelaufen wären, sind für mich das Tollste am Theatertreffen. Deshalb finde ich persönlich es ja auch ein wenig schade, dass manche Namen alle Jahre wieder zum Theatertreffen eingeladen werden. Dabei freue ich mich ja durchaus zum Beispiel für Nicolas Stemann oder René Pollesch. Auch aus ganz egoistischen Gründen, da ich mir deren Stücke immer wieder gerne ansehe, auch mehrfach. Aber sind die ausgewählten Inszenierungen jetzt „bemerkenswert“?
„Bemerkenswert“ ist eben ein höchst subjektiver Begriff. Was der eine bemerkenswert findet, findet ein anderer vielleicht höchst unbedeutend. Genauso wie die Auswahl der zehn „bemerkenswertesten Inszenierungen“ ist Theater generell eine extrem subjektive Angelegenheit: Theaterschaffende arbeiten nach ihrem subjektiven Gutdünken, alle Zuschauer wählen die Stücke, die sie sich ansehen [oder eben nicht] subjektiv aus und beurteilen sie subjektiv. Und alle Inszenierungen wirken subjektiv. Eine Objektivität ist in Bezug auf Theater [oder generell?] also gar nicht möglich. Und sollte Objektivität überhaupt angestrebt werden? Meiner Meinung nach: nein! Davon abgesehen, dass ich Objektivität für eine Illusion, ein Konstrukt unserer Sprache und unseres Denkens halte, finde ich es gut, dass sich hier die subjektive Auswahl einer leicht angreifbaren Jury einer kritischen Öffentlichkeit stellen muss. Gerade weil sie kritisierbar, angreifbar, fragwürdig ist. Diese Subjektivität ist ja gerade das Grandiose am Theater: Zuschauen ist hier kein passiver Konsum, sondern aktive Auseinandersetzung – Diskussionen, Meinungsverschiedenheiten und auch Reibungen inbegriffen. Zumindest besteht die Möglichkeit dazu.
Luk Perceval, Regisseur, sagte mal zum Theatertreffen: „Es ist wie die Olympiade: nur die Auserkorenen können teilnehmen. You love it, or you hate it.” Und Joachim Lux, Intendant am Thalia Theater, bringt es auf den Punkt: „Davon abgesehen ist jede Theatertreffen-Auswahl – wie wir alle wissen – hemmungslos ungerecht und angreifbar. Da das ohnehin klar ist, macht es auch so viel Spaß […].“
Eben.

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Adrian Anton, 1978 in Bad Hersfeld geboren, lebt und arbeitet in Hamburg als „freier" Kulturwissenschaftler. In der Praxis bedeutet das vor allem Individualisierung, Flexibilität und Mobilität im (Bildungs-)Prekariat als Ergebnis eines Studiums mit Magister-Abschluss in Volkskunde/Kulturanthropologie, Anglistik und Museumsmanagement. Seine Berufserfahrungen reichen von Bestattungen über PR und Tagungsorganisation bis zu Museumspädagogik. Derzeit forscht und schreibt er unter anderem zum „armen Tod". Bei all dem „work in transit" bilden Theaterbegeisterung und der Wille zu schreiben Konstanten, etwa das seit 2009 aktive Blog „FLÜSTERN + SCHREIE".

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