Die Wahl zwischen Konvention und Konvention. „Die Ratten“ ohne Zähne

Titel, Autor, Entstehungsjahr: „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann, 1911.
Handlung: Die proletarische Jette John durchlebt eine sogenannte „Muttertragödie“, versucht, das Kind einer anderen als ihres auszugeben und begeht schließlich Selbstmord.
Erster Satz: Ick stürze mir in Landwehrkanal und versaufe.
Regisseurin: Karin Henkel, dritte Einladung zum TT.
Bühne: Schauspiel Köln.
Beim TT 2013: Hintere Bühne im Haus der Berliner Festspiele.

tt13_p_die_ratten_c_klaus_lefebvre_03

Lina Beckmann als Frau John in Karin Henkels Inszenierung von Gerhart Hauptmanns „Die Ratten” . Foto: Klaus Lefebvre

Sie kommen durch die Wände. Sie springen aus Luken herab, krabbeln aus ihren Verstecken hervor, kriechen von überallher zur Bühnenmitte. Schrammelnde Gitarre und hämisches Gekreische begleiten den Überfall der Ratten. In atemlosem Tempo, mit dreckiger Berliner Schnauze ächzen und johlen sie den Text, der im Gängesystem widerzuhallen scheint, durch welches das Publikum zur Hinterbühne der Berliner Festspiele geschleust wurde, vorbei an Technik und Requisite. Zu Beginn der Theatertreffen-Premiere des Hauptmann-Klassikers entsteht im Echo des Bühnenlärms die Atmosphäre einer tiefen, zugigen Halle, wozu die klappernde und knirschende Zuschauertribüne einiges beiträgt: Der Raum klingt endlos größer, als das, was von ihm zu sehen ist. Hier soll sich niemand zu Hause fühlen. Spätestens ab der zweiten Hälfte des Abends herrscht jedoch wieder der vertraute Stubenmuff soliden, dramatischen Mainstreams, der unter Schulterzucken souverän schreit und weint.

Dabei hätte die Inszenierung durch so viele Gänge abbiegen, sich in Schlupfwinkel kauern oder zum Angriff übergehen können. Der Dachboden des Theaterdirektors Hassenreuter, in der Dramenvorlage nur Nebenschauplatz bürgerlicher Gestrigkeit, bildet hier den Rahmen des Abends, ein Regieeinfall, der zunächst erstaunlich gut funktioniert. Über- und Unterbau sind nicht mehr zu unterscheiden und damit nicht mehr das künstliche und das echte Spiel. Zwischen vollgestopften Kleiderständern schlüpfen die Schauspieler zu Beginn in einen Volkstheater-Fundus, streifen sich schrille Rollen über, die im nächsten Moment schon wieder hinterfragt werden.

Hassenreuter verordnet nicht nur dem lispelnden Theologiestudenten Spitta Sprechtraining, sondern weist auch die verzweifelte Piperkarcka, die sich ihr Kind zurückerkämpfen möchte, zurecht, unterbricht sie, verbietet ihr den Akzent (der wohl polnisch klingen soll), paraphrasiert und verkürzt selbstsicher den langen Monolog der englisch fluchenden Frau Knobbe (Kate Strong) und fläzt sich schließlich in die erste Reihe, um den Rest der Vorstellung zwischen den Zuschauern zu goutieren. Der Schauspiel-Dilletant Spitta, der sich gegen die „Kunstkacke“ – auch des laufenden Spektakels selbst – wehrt, mit den Armen wedelnd zu „echtem Schmerz“ zurückfinden, Elend und Hoffnungslosigkeit auf der Bühne abbilden will, wird vom Theaterdirektor in seine Schranken verwiesen. Das Problem, um das es hier geht, ist aber konstruiert: Gegenwartstheater bewegt sich nicht mehr zwischen den Polen naturalistischer Sozialkitsch (Spitta) und bürgerlicher Realismus (Hassenreuter). Hier wie da der unerschütterliche Glaube an Repräsentation und an Einfühlung. Muss man wirklich daran erinnern, dass schon längst anderes Theater gemacht wird? Die Inszenierung produziert ihre eigenen Probleme, um dann den risikolosen Weg zu wählen, Drama zu machen und sich nebenbei mit lässiger Geste zu entschuldigen.

Die Musik und der Sound vollziehen diese Verlegenheit mit: Werden zuerst noisige Schneisen ins Spiel geschlagen oder von Jazz-Gitarre und Trompete ein schiefer Blues runtergeleiert, obsiegt im zweiten Teil das sphärische Sirren aus dem Off, ein Garant dafür, dass die Figuren, wie es im Jury-Text heißt, „zu Gefühlen finden“. So wird der Sound ähnlich verschludert wie das beeindruckende Bühnenbild: Wände aus lauter schwarzen Luken, als lauere hinter der Wand latent die Gefahr. Ebensowenig ausgeschöpft wird die Choreographie, die als Zentrifugalkraft die Figuren an den Bühnenrand presst oder sie um sich selbst rotieren lässt, während sie als Ratten versuchen, zur Mitte zu kriechen, wo doch nur der Tod lauert. Es ist die heimlich Pointe des Abends: Statt der übereinandergeschichteten Stände befindet sich alles in einem Wirbel, der zusehends beschleunigt und die Teile an den Rändern isoliert. Aber keine Angst: Durch Einfühlung wird jede Gefahr gebannt. Der Wirbel erfasst nicht die Zuschauer und die Luken bleiben zu.

–––

Clemens Melzer lebt in Berlin, wo er Germanistik und Theaterwissenschaft studiert.

Alle Artikel