Heimatlieder

Die Münchner Adaption von Josef Bierbichlers Roman „Mittelreich“ durch Regisseurin Anna-Sophie Mahler stellt die vorletzte Premiere beim diesjährigen Theatertreffen. Unser Autor erlebte bemerkenswertes, wenngleich manchmal etwas starres Aufarbeitungstheater.

Die Adaption von Josef Bierbichlers Roman „Mittelreich“ durch die Regisseurin Anna-Sophie Mahler an den Münchner Kammerspielen stellt die vorletzte Premiere beim diesjährigen Theatertreffen. Unser Autor erlebte bemerkenswertes, wenngleich manchmal etwas starres Aufarbeitungstheater.

Die Inszenierung „Mittelreich“ der Münchner Kammerspiele in der Regie von Anna-Sophie Mahler ist eine von drei Romanadaptionen beim diesjährigen Theatertreffen. Romane für die Bühne zu bearbeiten hat sich als ein gängiges Verfahren im zeitgenössischen Stadttheaterbetrieb etabliert. Und gern – wie zuletzt beispielsweise am 30.04. im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Ton süffisanter Bockigkeit – wird daran beklagt, dass man auf diese Weise das „wirkliche“ Drama aus dem Blickfeld verliere. Viel seltener wird hingegen gefragt, was Romane für das aktuelle Theater gerade interessant macht.

Im Fall von Josef Bierbichlers Prosatext „Mittelreich“ ist das einerseits die enorme Herausforderung, ein sich über knapp 400 Seiten und 70 Jahre erstreckendes Familienepos auf die Bühne zu bringen. Andererseits liegt in Bierbichlers Buch insbesondere für ein Münchner Schauspielhaus jede Menge Theaterpotential, unter anderem wegen der lokalen Verwurzelung sowohl der erzählten Geschichte als auch seines Autors, der poetischen Sprachmächtigkeit des Textes, welcher oft schon beim Lesen wie gesprochen im Kopf nachklingt, und nicht zuletzt wegen der wirksamen Ineinanderspiegelung von Mikro- und Makrokosmos, die der klassisch-dramatischen Pars-pro-toto-Logik sehr entgegenkommt.

Brahms vs. Bierbichler

Anna-Sophie Mahler, die sich als Schauspiel-, vor allem aber als Opernregisseurin einen Namen gemacht hat, gibt sich in ihrem Zugriff auf diesen Stoff erfreulicher Weise nicht mit einer bloßen Überführung in Dialoge zufrieden. Sie fügt dem Transfer auf die Bühne eine weitere fundamentale Reibefläche bei: die Musik. Ihr „Mittelreich“ versammelt die im Roman versprengt auftauchenden musikalischen Motive (Brahms, Wagner Mahler, Carmina Burana) und verwebt sie zu einem tragfähigen Element der Inszenierung. Unter der Leitung von Bendix Dethleffsen und dirigiert von Julia Selina Blank spielen zwei Pianos sowie eine Pauke im nur halb abgesenkten Orchestergraben, während sich die sechs auf der Bühne agierenden Schauspieler*innen sowie das 20-köpfige Junge Vokalensemble München gesanglich hinzugesellen.

Vor allem im ersten Drittel des Abends wird diese Konstellation auch tatsächlich ausgeschöpft. Frontal auf Stühlen sitzend, singen Steven Scharf, Thomas Hauser, Stefan Merki, Annette Paulmann, Jochen Noch und Damian Rebgetz „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms. „Selig sind, die da Leid tragen / denn sie sollen getröstet werden.“ Nach einigen Versen setzt der im Rang dreiseitig aufgestellte Chor ein und wie vom Blitz getroffen, wird ein ganzer Theatersaal in Stase versetzt. Dieses Wechselspiel behält auch beim mehrmaligen Wiederholen seine Kraft, zumal die Schauspieler in ihren Solo-Gesangspartien zu überzeugen wissen. Das konzertante Setting gleitet dann allmählich ins Spiel, in die Geschichte über.

Theatraler Schmelztigel der Vergangenheit

Ausgehend von der Beerdigung des Alten Seewirts beginnt dessen Sohn Semi mit seiner Vergangenheitsbewältigung, die sich vom Ersten Weltkrieg bis zum nahenden Ende des Kalten Krieges erstreckt. Im fiktiven bayrischen „Seedorf“ setzt sich so ein Panoptikum des deutschen 20. Jahrhunderts zusammen, in dem fast schon paradigmatisch die zentralen Knotenpunkte individueller und gesellschaftlicher Traumata dieser Generationen durchgespielt werden: der jäh erstickte Aufbruch in den Zwischenweltkriegsjahren, die Verluste und Wirren um 1945, sexueller Missbrauch innerhalb und außerhalb der Kirche, Wirtschaftswunder, Flüchtlingszuzug, das eiserne Schweigen über die Nazi-Zeit und schließlich der Katzenjammer gegen Ende des Lebens über falsche Entscheidungen und verpasste Chancen. Anna-Sophie Mahler hat dafür gemeinsam mit Johanna Höhmann eine Dramaturgie entwickelt, die zwar chronologisch bleibt, dabei aber Schichtungen unterschiedlicher Zeitebenen, Abbrüche und assoziative Ausgriffe ermöglicht. Der Kompositionsweise beispielsweise eines Jon Fosse ähnlich, befinden sich bisweilen die alte und junge Version desselben Charakters gleichzeitig auf der Bühne und treten ins Zwiegespräch. Das Theater wird zu einem Raum, in dem sich mehrere Vergangenheiten ineinanderschieben und miteinander interagieren können, was eine gleichermaßen sinnliche wie sinnfällige Übersetzung dessen ist, was man gemeinhin „Aufarbeitung“ nennt.

Das Einheitsbühnenbild von Duri Bischoff stellt die Akteure in eine nach hinten spitz zulaufende dörfliche Veranstaltungshalle, die als ländlicher Konzertsaal sowie als häusliche Küche der Familie fungiert. Etwa zur Mitte der Inszenierung öffnet sich die Rückwand und gibt dahinter eine sich weiter verengende Verlängerung des gleichen Raumes preis, in dem allerdings ab der Bruchkante schlagartig die Farbe von den Wänden und der Decke blättert. Auch hier schreibt sich die Geschichte ins Material ein und gerinnt zum Bild.

Dynamische Flaute

Dieses Bildhafte kennzeichnet die Inszenierung insgesamt und ist sowohl eine ihrer Stärken als auch Hemmschuh für größere szenische Dynamik. Da die musikalischen Einwürfe im Laufe des Abends immer seltener werden und sich auf gelegentliche Auftritte des Chors, einige Instrumentalteile und einzelne Soli beschränken, ist man zunehmend mit den Schauspielern allein im starren Einheitsraum. Darin entspinnen sich durchaus starke Momente, so zum Beispiel Damian Rebgetz‘ ganz harmlos einsetzende und sich daher umso brutaler wendende Schilderung einer Vergewaltigung durch die russische Armee. Oder auch, wenn Stefan Merki als Alter Seewirt in einem Monolog den gesamten nachkriegsdeutschen Arbeits- und Lebensethos als einen Gang „durchs Nadelöhr“ beschreibt, dem die argwöhnische Verbissenheit gegenüber der eigenen Biographie und die ständige Angst vorm Verlust des Erreichten zugrundeliegen, welche tragischer Weise durch keinen weiteren sozialen Aufstieg zu bändigen sind.

Insgesamt sucht den Abend jedoch mit zunehmender Dauer eine gewisse Trägheit heim, die sich nicht mehr recht verzieht. Das liegt auch daran, dass die Inszenierung (darin selbst sehr „deutsch“) immer aufgeräumter und ordentlicher wird und sich keine Risiken mehr erlaubt. Gerade hier wird die Musik oft links liegen gelassen und kann sich nicht mehr als gleichberechtigter Partner bzw. eben gerade Kontrahent der Bühnenvorgänge behaupten. Keine Frage, das Spiel von Scharf, Hauser, Merki, Paulmann, Noch und Rebgetz bleibt bis zuletzt sehenswert, doch die schleichende Überführung des Musiktheaters in ein klassisches Drama mit musikalischen Tupfern geht zulasten der Spannung und des Rhythmus, den einzig Steven Scharf als Semi tapfer bis zuletzt in seiner Stimme behauptet.

Inhaltlich lässt sich die Abschaffung der Musik aus dem „Mittelreich“ freilich auch anders deuten. Nachdem alle Figuren bis auf Semi von der Bühne in den Orchestergraben gespielt wurden, ist man wieder am Anfang angelangt: der Beerdigung des Vaters. Der Sohn bleibt verdrossen und befremdet allein im Elternhaus zurück. Als aus dem Plattenspieler noch einmal kurz Brahms‘ „Deutsches Requiem“ erklingt, tritt Semi den Deckel zu und bringt die Melodie zum Schweigen. Er will die Musik der Eltern nicht mehr hören. Dunkel. Ende. Keiner hat behauptet, dass Aufarbeitung in Aussöhnung münden muss.

Mittelreich
nach dem Roman von Josef Bierbichler
in einer Fassung von Anna-Sophie Mahler und Johanna Höhmann.
Inszenierung: Anna-Sophie Mahler, Bühne: Duri Bischoff, Kostüme: Pascale Martin, Musik: Stefan Wirth, Sachiko Hara, Manfred Manhart, Anno Kesting, Bendix Dethleffsen, Licht: Jürgen Tulzer, Dramaturgie: Johanna Höhmann, Musikalische Leitung: Bendix Dethleffsen, Chor: Junges Vokalensemble München, Dirigentin: Julia Selina Blank.
Mit: Steven Scharf, Thomas Hauser, Stefan Merki, Annette Paulmann, Jochen Noch, Damian Rebgetz.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

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Falk Rößler

Geboren 1983, studierte Europäische Medienwissenschaft in Potsdam und Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Dort u.a. Gründungsmitglied der Theatergruppe Die Resilentes gemeinsam mit Eleonora Herder & Arne Köhler. Seit 2011 bildet er zusammen mit Stephan Dorn & Nele Stuhler die Gruppe FUX, deren Arbeiten an zahlreichen Theatern und Festivals gezeigt wurden. Ihre aktuelle Produktion „FUX GEWINNT“ setzt sich mit Gewinn- und Glücksspielen auseinander. Darüber hinaus arbeitet Falk Rößler als Regisseur, Musiker, Performer und Publizist.

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