Interview: Wiebke Puls

Wiebke Puls ist seit der Spielzeit 2005/06 Teil des Ensembles der Münchner Kammerspiele. Seit 2012 schreibt sie in unregelmäßigen Abständen für „Theater heute“ und setzt sich in ihren Texten mit dem Beruf „Schauspieler*in“ auseinander. Als Gastautorin hat sie für das Theatertreffen-Blog einen Beitrag geschrieben. Janis El-Bira und Theresa Luise Gindlstrasser trafen Wiebke Puls zum Gespräch.

TT-Blog: Man darf behaupten, dass Sie zu den Stars am Theater zählen. Zur kleinen Riege derjeniger, von denen das Publikum sagt: „Deretwegen gehe ich heute Abend ins Theater.“ Trotzdem stehen seit vielen Jahren die Regisseure im Mittelpunkt, man geht zum „neuen Breth-Abend“ oder zum „neuen Kriegenburg“. Täuscht der Eindruck oder stehen Schauspieler*innen nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit?

Wiebke Puls: Als ich in Hannover mein erstes Engagement hatte (1998-2000), fand die Öffentlichkeitsarbeit noch stark über die Schauspieler*innen statt. Das Ensemble stand in der ersten Reihe, obwohl wir da schon die Zeit des Regietheaters hatten. Als ich dann anschließend nach Hamburg ans Schauspielhaus ging, hatte Tom Stromberg, der neue Intendant dort, viele bekannte Namen aus dem Ensemble seines Vorgängers Frank Baumbauer nicht übernommen und arbeitete eher mit den individuellen Persönlichkeiten damals nicht sehr bekannter Schauspieler*innen. Ihm ging es merklich stärker um die Regisseur*innen. Ich wechselte später an die Münchner Kammerspiele, wo wiederum ein sehr ausgeprägter Ensemblegeist herrschte. Hier war klar, dass jeder und jede mal protagonistisch, mal als „Zuspieler*in“ für andere tätig sein würde. In den Leporelli wurden aber die Gesichter der einzelnen Ensemblemitglieder künstlerisch verfremdet. Auf Plakaten tauchten die Gesichter, wenn überhaupt, nur noch in verklausulierter Form auf. Als Schauspieler*innen schienen wir nicht geeignet, Werbung für ein Theater, das Inhalte in den Vordergrund stellt, zu machen. Das Publikum sah das anders, für die Zuschauer*innen waren die Schauspieler*innen nach wie vor ein wichtiger Angelpunkt. Unter der Intendanz von Johan Simons wurde dieser Gedanke im Grunde fortgesetzt. Die von LSD gestaltete Corporate Identity wurde dann zudem nicht mehr über Bilder, sondern über Typographie vermittelt. Das suggerierte ganz klar: Hier geht es nicht um Personen, schon gar nicht um Stars, sondern um Inhalte und eine intellektuelle Auseinandersetzung mit den Stoffen. Diese Auseinandersetzung mit der Welt sollte durch die Schauspieler*innen vertreten, aber nicht mehr verkauft werden.

TT-Blog: Man hat den Eindruck, dass es machmal sogar ein gewisses Interesse daran gibt, Schauspieler*innen scheitern zu sehen. Wenn er oder sie, bei Castorf oder Pollesch zum Beispiel, in irrsinnigen Textmengen untergeht.

WP: Ich denke, das ist eine Überforderung, die ein künstlerisches Team unter Umständen ganz bewusst sucht. Zu Recht! Denn Überforderung halte ich für so etwas wie das verbindende Element unserer Zeit. Theater gibt dir zwar die Gelegenheit, etwas zu sortieren, aber wenn man es zu gut sortiert, dann ist das doch irgendwie auch nicht mehr wahr. Wenn wir uns wirklich mit dem auseinandersetzen wollen, was uns umgibt, dann ist das Moment des Scheiterns und der Überforderung etwas, das vorkommen muss. Wir stehen ständig unter dem Druck, das jeweils nächste schnell passieren zu lassen. Die Produktionsbedingungen sind so, die Kulturpolitik ist es auch. Wir spüren das als eine Energie, die uns nicht rasten lässt. Und vielleicht gibt es unter Theaterschaffenden sogar den von einer gewissen Eitelkeit angehauchten Wunsch, die Rastlosesten von allen zu sein. Man konnte das an der Volksbühne beobachten. Da bin ich während meines Studiums hier in Berlin fast jeden Abend hingepilgert. Die waren ja alle immerzu am Hyperventilieren. Niemand hat sich geschont.

TT-Blog: Das ist ja ein seltsamer Fall an der Volksbühne, dass sich da inmitten eines so extremen Regietheaters ein großer Freiraum für die Schauspieler*innen aufgetan hat. Dass sich die Schauspieler*innen, die ja fast zu einer Art Verfügungsmasse geworden sind, im „Scheitern“ durch die Improvisation wieder emanzipieren.

WP: Ich empfand es immer so, dass das Regietheater die Schauspieler*innen nur in dem Punkt in die Pflicht genommen hat, dass sie sich wirklich und vollständig zur Verfügung stellen sollten. Die Volksbühnen-Schauspieler*innen habe ich zum Beispiel als ausgesprochen autark empfunden. Ich hatte immer den Eindruck, die hatten jeder Zeit die Wahl, es auch ganz anders zu machen oder einfach sein zu lassen. Insofern fand ich nicht, dass die Regie einen besonderen Zugriff auf sie hatte, abgesehen von der Aufforderung, sich zu exponieren, auszusetzen und wirklich aus dem Moment heraus zu agieren. Das kam mir vor wie ein Pakt zwischen Regie und Schauspiel. Ein Pakt zur Autarkie.

TT-Blog: Kennen Sie diesen Wunsch, sich auszusetzen und autark zu positionieren, auch von sich selbst? Hat er eine Rolle gespielt bei Ihrer Entscheidung, sich auch mit der schriftlichen Auseinandersetzung mit Theater beschäftigen zu wollen?

WP: Ja. Ich möchte mich gerne verhalten und ich denke, das Theater bietet viele Möglichkeiten, dies auf eine nicht akademische, sondern spielerische Weise zu tun. Es gibt eine kaleidoskopische Ambivalenz der Dinge. Momente eines Sich-Verhaltens, die sich vielleicht im nächsten Augenblick schon wieder widersprechen. Das kann natürlich zutiefst beunruhigend sein. Das Schreiben hilft mir dabei, eine Sache mal genauer anzuschauen. Insofern war schreiben für mich immer interessant. Da geht es um die Ordnung der Gedanken. Deswegen schreibe ich gerne. Um etwas zu konkretisieren, es auf den Punkt zu bringen.

TT-Blog: Lesen Sie regelmäßig Kritiken?

WP: Nach einer Premiere, an der ich beteiligt war, lese ich so ziemlich alles und das auch oft viel zu früh. Also in einer Phase, in der die Wunde noch nicht geschlossen ist. Die Diskussion interessiert mich sehr, aber die Kritiken sind doch oft hermetisch abgeschlossen. Vielleicht kann man einen Leserbrief schreiben, aber kein*e Kritiker*in macht mir, als beschriebene Akteurin, ein Angebot, darüber weiter zu sprechen. Stattdessen wird eher der Deckel draufgemacht und die Kritiken erscheinen wie das letzte Wort. Klappe zu, Affe tot.

TT-Blog: Würden Sie sagen, dass in der jetzt geläufigen Theaterkritik die Beschreibung, also auch die Beobachtung von handwerklichen Vorgängen zu kurz kommt und zu viel Ideologiekritik betrieben wird? Haben Sie das Gefühl, dass hier eine Lücke entstanden ist, die vielleicht auch etwas mit dem viel stärker gewordenen Ensemble- und Regiegedanken zu tun hat?

WP: Das hat mit vielen Faktoren zu tun. Aber Fakt ist, dass die Schauspieler*innen als solche, die eine Kunst beherrschen, nur noch selten beschrieben werden. Dass in einem Artikel ein bestimmter Moment detailliert beschrieben wird. Da gibt es nur pauschale Beschreibungen. Und in den meistens Fällen sind es wirklich nur Schlagworte, die in Klammern geschrieben werden. Das verstehe ich nicht. Die haben uns immerhin zweieinhalb Stunden zugesehen, und klar, das Bühnenbild ist wichtig, die Regie ist wichtig, aber die Schauspieler*innen sind heutzutage eigentlich sehr aktiv Gestaltende. Und es ist doch so, dass Schauspieler*innen nicht nur dann Autor*innenschaft übernehmen, wenn die eigene Biographie auf die Bühne gebracht wird. Ich stelle der Regie ja durch meine Improvisation und Angebote einen Wust von Material zur Verfügung, damit überhaupt erstmal etwas zum Sortieren da ist. Das wird den Schauspieler*innen von der Kritik aber überhaupt nicht zugestanden. Sie werden in der Regel nicht beschrieben als gestaltende Künstler*innen die auch Verantwortung tragen.

TT-Blog: Was wäre, wenn ein*e Kritiker*in den Versuch unternehmen würde, durch Anwesenheit in den Proben diesen Entstehungsprozess in die Besprechung aufzunehmen? Also sich ein Bild verschaffen würde über den „Wust von Material“?

WP: Nein, ich lasse eine*n Kritiker*in nicht zusehen bei der Probe, ich habe ja ein Recht darauf, zu probieren. Deswegen heißt es ja Probe. Und es ist schon hart genug, dass irgendwann der Tag kommt und ich dazu verdonnert bin, etwas als ein vorläufiges Statement stehen zu lassen. Es kommt ja häufig vor, dass sich eine Vorstellung entwickelt und das wird dann nicht mehr besprochen. Ich finde es wichtig, dass man uns diesen Raum der Findung lässt und uns dann meinetwegen auch beim Wort nimmt, sobald wir etwas öffentlich machen.

TT-Blog: Es ließe sich doch vielleicht derselbe Vorgang vom Kritiken-Schreiben behaupten. Auch hier gibt es Entstehungsprozesse und ein fertiger Text wäre dann auch ein vorläufiges, aber definitiv öffentliches Statement. Also ähnlich wie die Premiere. Und in meinen Augen wären diese beiden Dinge, obwohl sie öffentlich sind, immer in einer gewissen Vorläufigkeit zu betrachten. Aber es gibt natürlich auch die Versuche, den Entstehungs-, also „Probenprozess“ eines Textes offenzulegen.

WP: Ja, das sind verschiedene Haltungen. Viele der arrivierten Kritiker*innen würden sich aber nicht angreifbar machen wollen. Die wollen das Ding besiegeln.

TT-Blog: Vielleicht macht ja der Versuch, etwas zu besiegeln, die Sache schlecht.

WP: Ich mag Publikumsgespräche sehr gerne. Weil da wirklich ein Dialog statt finden kann. Das würde mir gefallen, wenn die Kritik das auch öfter mal anbieten würde. Natürlich gibt es aber eine Grenze der Schnelllebigkeit. Der erste Impuls muss nicht veröffentlicht werden, wir Schauspieler*innen geben uns ja auch Mühe, etwas zu formulieren. Eine Aufführung mit Twitter zu begleiten, ist mir nicht sympathisch. Während ihr da vor euch hin twittert, versäumt ihr zuzuhören, zuzusehen und zu reflektieren. Das erwarte ich aber von Gesprächspartner*innen. Die Form des dialogischen Besprechens finde ich aber ganz reizvoll.

TT-Blog: Weil hier schon durch die Form eine Art von Vorläufigkeit markiert wird? Weil versucht wird, sich aus einer steinernen Textform heraus zu heben?

WP: Sobald zwei darüber sprechen wird klar, dass sich keiner einbildet, etwas als Ganzes erfassen zu können. Und ich glaube, Dialog führt in der Regel zu mehr Erkenntnissen als innerer Monolog. Das reizt mich daran.

TT-Blog: Glauben Sie nicht, dass es möglich ist, diese Vorläufigkeit in einem „geschlossenen“ Text zu markieren? Diese dort so passieren zu lassen, dass klar werden kann, dass eine Kritik nicht der Versuch ist, irgendwo einen Deckel drauf zu geben, sondern genauso eine Vorläufigkeit darstellt wie alles andere?

WP: Eine einzige Form zu finden, in der das möglich wäre, ist schwierig. Vielleicht geht’s mit Parallelkritiken. Gleichzeitig verschiedene Kritiken mit verschiedenen Standpunkten, das finde ich interessant – das gibt aber der Pressespiegel auch her. Dialogkritik könnte man gerne mal in einem Printmedium versuchen. Doch auch im notierten Dialog sollte man sich vorher etwas überlegen und nachher redigieren. Also kein Geplapper, sondern ein vergleichendes Gespräch, nicht ohne den Anspruch, etwas für sich schon mal eingeordnet und in Kontexte gestellt zu haben. Kritik ist mehr als bloße Beschreibung. Wobei „Beschreibung“ in einer klassischen Kritik meistens zu kurz kommt. Die Beschreibung würde ja plausibel machen, zu welchem Schluss du kommst. Wenn gar nicht mehr beschrieben wird, dann wird Kritik zu einem nicht nachvollziehbaren Richterspruch, der am Ende gefällt wird. Aber auch eine Beschreibung kann klüger oder blöder ausfallen. Was qualifiziert einen denn zu*r Kritiker*in? Nur dass man sich für andere lesbar äußert?

TT-Blog: Ich weiß es nicht. Aber ich bemühe mich darum, aufmerksam zu schauen und aufmerksam zu formulieren. Das wäre mein Zugang. Mich einem Theaterabend auszusetzen, unbedingt auch mit dem, was ich mitbringe.

WP: Das wäre auch meine Auffassung von meiner Arbeit. Allerdings, je mehr Wissen du ansammelst, je mehr Kontexte es gibt, in die du einordnen kannst, desto komplizierter wird es auch. Ein unverstellter Blick ist mir schon wichtig, wenn auch vielleicht illusorisch. Das geht dann so weit, dass ich mir denke, warum ich denn einen Text vorher lesen sollte; die Frage ist doch, erzählt sich mir etwas, ohne dass ich den Text kenne?

TT-Blog: Ich glaube schon, dass es wichtig ist, den jeweiligen Stücktext zu lesen. Ich glaube prinzipiell nicht, dass etwas auf ein leeres Blatt Papier fallen kann, dass es sowas wie den „unverstellten Blick“ überhaupt gibt. Wir bringen ja immer etwas mit. Es geht da, glaube ich, um eine gewisse Art von Gleichzeitigkeit von Wissen und Nicht-Wissen.

WP: Du hast Recht. Ich bin aber auch keine Kritikerin! Ich gehe auch ohne Vorkenntnisse in Vorstellungen, versuche dann allerdings das Gesehene sorgfältig zu beschreiben. Da geht es für mich um Respekt. Nämlich erst einmal zu respektieren, dass da was versucht wurde. Diesen Respekt spüre ich in manchen Kritiken nicht.

TT-Blog: Letzte Frage: Wir haben vorhin so viel über Haltung gesprochen. Würden Sie sagen, dass Spielen und Schreiben für Sie eine Art ist, sich zu Welt zu verhalten?

WP: Ja.

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Theresa Luise Gindlstrasser

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