Er liest sich wie Prosa und ist doch Theater. Er hat keine klare Handlung, keine wiedererkennbaren Figuren, aber ist für die Bühne geschrieben. Oliver Klucks zum Stückemarkt eingeladener Theatertext „Das Prinzip Meese“ wirft viele, nicht nur stilistische Fragen auf und wurde am 10. Mai um 20 Uhr von Robert Beyer, Sandra Hüller, Astrid Meyerfeldt, Heide Simon und Ingo Günther im Haus der Berliner Festspiele szenisch gelesen.
„Das Prinzip Meese“ fängt mit dem Vorschlag an, Helmut Schmidt als einzigen Sprecher für das Stück einzuladen. Haben Sie ihn mal angefragt, ob er das tun würde?
Nein. Als das Stück entstanden ist, gab es eine Helmut-Schmidt-Kampagne. Überall Plakate, auf denen man ihn rauchen sah. Beim Warten auf die S-Bahn in Berlin Gesundbrunnen fielen sie mir auf, und ich habe gedacht, er kommt jetzt in den Text rein.
Wieso?
Helmut Schmidt ist in der Bevölkerung als jemand bekannt, der immer für die strikte Einhaltung von Normen und Gesetzen gesorgt hat. Jetzt im Alter setzt er sich über eine Konvention hinweg, die überall einen gesellschaftlichen Konsens hat. Wenn Helmut Schmidt alle vollraucht, finden die Leute das kurioserweise sympathisch. Es ist ein Phänomen, das mich sehr interessiert und das ich im Stück nicht erschöpfend behandelt habe. Ich habe es für mich als Skizze vermerkt und komme später darauf zurück.
Neben Helmut Schmidt taucht noch ein berühmter Name in Ihrem Stück auf. Allerdings nur im Titel: Jonathan Meese. Ihn kann ich mir übrigens nicht beim Rauchen vorstellen.
Der raucht auch nicht, glaube ich. Ich habe mal einen Kurzfilm gedreht, in dem alle rauchen mussten. Auch die Kinder. Beim «Prinzip Meese» fand ich erstrebenswert, dass man nicht wirklich physisch raucht, sondern die Konventionen überdenkt. Das ist das Interessante an Jonathan Meese. Er sagt: „Das Buch musst du lesen und genau machen, was drin steht. Aber alles andersrum. Wenn die einen 1 oder 2 sagen, dann sagst du a oder c, und dann geht die Reise los.“ Das ist mir durch den Kopf gegangen und hat mich nicht mehr losgelassen. So ein Meese-Gedanke.
Ihr Stück besteht aus Aussagen, Behauptungen und essayistischen Exkursen, teilweise auch aus Beschreibungen von alltäglichen Handlungen. Das Ganze wirkt wie ein reiner Gedankenfluss.
Mich befriedigt die klassische Form nicht. Ich möchte den Regisseuren die Freiheit geben, ein Maximum aus dem Text, der Aussage, der Stimmung herausholen zu können. Eine Stimmung, ein Gefühl ist viel besser als eine Regieanweisung.
Wie kam es zu diesem Textverständnis?
„Das Prinzip Meese“ ist mein drittes Theaterstück. Bei den beiden anderen stand ich mir oft im Weg, weil ich mir zu viele Gedanken über das Theater gemacht habe. Ich habe zum Beispiel tage-, wochenlang überlegt, wie die Figuren überhaupt heißen sollen. So ein Unfug. Schauspieler haben eine Sprache, ein Gesicht! Was sie sagen, ist wichtig, nicht ihre Namen.
In „Das Prinzip Meese“ heißt es, dass das Stück scheitern wird, weil das Publikum, hauptsächlich lethargische Dauerkartenbesitzer, einfach sitzen bleibt. Ist es notwendig, die Zuschauer zu beleidigen?
Das bringt überhaupt nichts und ist eine schwache Stelle im Text. Dabei dachte ich an Hartz IV-Empfänger, die auf Bühnen stehen, so wie bei Lösch. Es interessiert sich kein Schwein dafür, dass sie nun da stehen und sagen, wie es ihnen geht. Ich glaube, sie werden sogar nicht mal bezahlt, und dennoch will man ihnen das Gefühl geben, es geht wieder bergauf. Das Theater ist phasenweise in eine Position gekommen, die wirklich ein Spiegel der Realität ist. Für die Zuschauer ist das aber nach wie vor Theater. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob man sie auf diese Weise erreicht.
Der Text prangert die eigene Generation an, als eine die „Schweigen als subtilste Form des Protestes“ oder „Gelegenheitsarbeit als beste Karriere“ pflegt. Darin habe ich mich teilweise selber erkannt.
Über dieses Schweigen habe ich mich lange geärgert, bis ich erkannt habe, dass die Leute sich doch einbringen. Sie haben ganz andere Voraussetzungen als zum Beispiel 1968. Sie müssen dementsprechend ganz anders reagieren. Konsum wird uninteressant. Das ist für eine kapitalistische Gesellschaft ein sehr interessanter Punkt. Ich kenne viele Leute, die zum Teil eine akademische Ausbildung haben, aber auf Karriere verzichten. Sie fahren gern Fahrrad, donnerstags und freitags haben sie frei und fahren raus in den Wald. Eigentlich undenkbar.
Für Sie undenkbar?
Nein, überhaupt nicht, aber für meine Eltern oder meine Großeltern. Sie sagen: „Wir arbeiten, wir haben das ganze Leben gearbeitet, ihr faulen Schweine müsst auch arbeiten.“Jonathan Meese ist einer, dem man etwas vorwerfen könnte: „Wie der rumrennt, so ein widerliches Schwein.“ Ist er aber gar nicht.
Er arbeitet ja auch sehr viel.
Er ist für mich ein richtiger Künstler. Jemand, der durch sein Schaffen und nicht zwangsläufig durch Stipendien oder andersweitige Förderung zu dem geworden ist, was er ist. Man muss sich immer wieder hinsetzen, um die Form zu finden, die Sprache, was auch immer. Man muss unglaublich ausdauernd sein. Es ist wie eine Bewährungsprobe, die manchmal viele Jahre dauert. Meese sagt auch, dass er allein ist. Das ist sehr beeindruckend, auch für junge Leute, die sich mit dem kreativen Schaffen befassen, dass man die erste Zeit wirklich allein ist.