Wie kommt eine Inszenierung zum Theatertreffen? Zur Eröffnung des Internationalen Forums gab Vasco Boenisch einen Einblick in die Juryarbeit beim TT und das Zustandekommen der Auswahl. Die Rede von Vasco Boenisch, übrigens selbst Gewächs der TT-Talenteplattform, veröffentlichen wir hier in voller Länge.
„Schön, dass wir uns heute schon einmal sehen. Denn wir werden uns ja spätestens ganz am Ende des Theatertreffens noch einmal wieder begegnen, wenn Sie uns, den Juroren, bei der öffentlichen Schlussdiskussion die Meinung sagen. So war das jedenfalls bisher immer.
Ich freue mich also über die Einladung, hier ein paar Dinge zum Theatertreffen, zu unserer Arbeit als Jury und zu unserer Auswahl sagen zu können. (Bitte beachten: Ich rede hier nur als ein Mitglied der Jury, es gibt bei uns keinen Jury-Sprecher.)
Wie kommt eigentlich diese Auswahl aus zehn Inszenierungen zustande? Die zehn Inszenierungen, die hier gezeigt werden, wählt eine Jury aus, die aus sieben Theaterkritikern besteht. Es ist also ein Festival, das nicht durch einen Kurator zusammengestellt wird. Es reden überhaupt keine Künstler mit. Und noch nicht mal die Veranstalter des Festivals.
Weder Yvonne Büdenhölzer als Leiterin des Theatertreffens, noch Thomas Oberender als Intendant der Berliner Festspiele haben ein Mitspracherecht. Sie können nur hoffen, dass wir Inszenierungen auswählen, die in Berlin auch genug Leute sehen wollen, und dass man mit ihnen ein gutes Festival bauen kann. Noch verfahrener: Wenn wir besonders aufwändige, teure Produktionen auswählen, müssen sie dafür sogar noch extra auf die Suche nach Sponsoren gehen, weil der Etat dann oft nicht ausreicht.
Das ist schon eine irre Situation, dass man ein Festival veranstaltet und die Verantwortung über einen ganz zentralen, großen Programmpunkt quasi aus der Hand gibt. Darin ist das Berliner Theatertreffen als Kulturfestival vermutlich einzigartig: dass allein eine unabhängige Jury aus Journalisten das Programm von zweieinhalb Wochen bestimmt!
Wer also sind diese sieben allmächtigen Juroren? Die Jury besteht aus sieben Theaterkritikern, das sagte ich schon. Das heißt: Wir verstehen hoffentlich was vom Theater. Wir sehen viel, auch schon vor unserer Jury-Amtszeit, wir haben Vergleichsmöglichkeiten, ein trainiertes Auge, können uns die Köpfe heiß reden und, vielleicht das Wichtigste, wir sind unbestechlich. Garantiert.
Jeder Juror wird auf drei Jahre berufen. Jedes Jahr wechseln ein paar Jurymitglieder, sodass sich die Zusammensetzung immer etwas verändert. Wir sind zurzeit vier Frauen, drei Männer, in einer Altersspanne von Anfang 30 bis Mitte 50. Und das ist wunderbar. Wir lieben und wir hassen uns, manchmal beides gleichzeitig, wir verzweifeln aneinander, und wir verbrüdern oder verschwestern uns inniglich. Mein Gott, wie eine richtige Familie. Am Ende gehen wir allen miteinander gut essen.
Aber zurück zu den Regularien. Wir Juroren kommen aus den verschiedenen Regionen des deutschsprachigen Raums. Wir reisen ein Jahr lang ganz Deutschland, Österreich und die Schweiz ab auf der Suche nach den zehn bemerkenswertesten Aufführungen. (Zu dem Kriterium „bemerkenswert“ sage ich gleich noch etwas.)
In der vergangenen Saison haben wir zusammen insgesamt 430 verschiedene (!) Inszenierungen gesehen. Insgesamt sind wir auf knapp 800 Theaterbesuche gekommen. – Das ist Rekord in der Geschichte des Theatertreffens, wie man uns gesagt hat. Und ich kann Ihnen sagen, das war auch nicht immer schön. Und das war verdammt anstrengend. Wir machen das ja alle nebenberuflich. Wir sind entweder fest angestellt bei einer Zeitung oder Zeitschrift, bei einem Radio- oder Fernsehsender, oder wir sind freiberufliche Journalisten, die erst mal ihr Geld verdienen müssen und diese Jury-Arbeit nebenher erledigen. Ich persönlich habe allein fürs Theatertreffen innerhalb eines Jahres 135 verschiedene Aufführungen besichtigt. Das ist, ganz ehrlich, zu viel.
Andererseits ist das viele Reisen und Gucken natürlich ein unglaublich tolles Privileg. Wo man überall hinkommt! Da wäre man ohne diesen Rechercheauftrag niemals hingefahren. Und was man da alles erlebt… (Ich kann Ihnen da den wunderbaren Artikel meiner Kollegin Christine Wahl, den sie vergangenes Jahr im „Tagesspiegel“ veröffentlich hat , und die Fortsetzungsgeschichte, die jetzt erschien , sehr zur Lektüre empfehlen.) Aber ich meine natürlich nicht nur Anekdoten. Sondern es ist auch beeindruckend zu sehen, wie lebendig und wie vielfältig die deutschsprachige Theaterlandschaft ist!
Jedenfalls, da bin ich mir auch nicht zu fein, uns selbst zu loben: Wir haben wirklich keine Mühen gescheut, noch an den verwegensten, entlegensten Orten, ja, nennen wir es beim Namen: in der tiefsten Provinz eine Entdeckung zu machen. Und dennoch – das ist natürlich auch ganz klar – schafft man selbst mit 430 verschiedenen Aufführungen nur, einen kleinen Teil der vielen tausend Inszenierungen anzusehen, die innerhalb eines Jahres in Deutschland, Österreich und der Schweiz entstehen.
Der Arbeitsprozess
Wie kommt eine Aufführung nun also nach Berlin zum Theatertreffen? Jeder Juror ist erst einmal für ein Gebiet hauptverantwortlich. Bei mir ist es Westdeutschland, sozusagen von Bielefeld bis Frankfurt. Hier muss ich dafür Sorge tragen, keine wichtigen Aufführungen zu verpassen und ggf. Kleines, Unbekanntes, Abseitiges zu entdecken. Wunderbarerweise kann ich daneben aber auch überall sonst hinfahren, um andernorts Aufführungen anzuschauen. Darin ist jeder Juror frei.
Zu jeder Aufführung, die wir besuchen, verfassen wir eine interne Kurzkritik. Am Ende steht ein JA für „schlage ich fürs Theatertreffen vor“ oder ein NEIN. Diese Voten mailen wir immer hin und her. Bei einem JA sind die anderen Juroren aufgefordert, auch zu der jeweiligen Inszenierung zu reisen. Zirka alle sechs bis acht Wochen treffen wir uns zu Jurysitzungen und diskutieren noch mal persönlich die gesehenen Aufführungen. Am Ende, Mitte Februar, ist die Schlusssitzung. Hier werden alle noch in der engeren Auswahl befindlichen Inszenierungen erneut sehr gründlich diskutiert. Schließlich wird ein Meinungsbild hergestellt. Das heißt: Am Ende wird abgestimmt. Die Aufführungen mit den meisten JA-Stimmen werden eingeladen. Ganz demokratisch. Was auch bedeuten kann, dass manche Einladungen nicht einstimmig erfolgen, sondern dass man auch mal überstimmt wird und einen persönlichen Favoriten nicht durchsetzen kann. Dennoch stehen wir schließlich als Jury hinter der kompletten Auswahl, jedenfalls sollte das so sein.
Die Kriterien
Das führt zu der entscheidenden Frage: Nach welchen Kriterien wählen wir die zehn Inszenierungen aus? Einfache Antwort: Es gibt nur ein Kriterium (das ist ganz offiziell in der Satzung des Theatertreffens festgeschrieben), und das heißt: bemerkenswert. „Die Jury soll die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen der deutschsprachigen Schauspielbühnen auswählen und dem Intendanten zur Einladung vorschlagen“, heißt es. Das war’s. Bemerkenswert. Ja, was ist bemerkenswert? Bemerkenswert kann alles und nichts sein. Ein Kaugummi-Kriterium. Die absolute Freiheit. Somit ist das Wort Segen und Fluch zugleich. (Ich würde sagen, eher Segen als Fluch.) Ist bemerkenswert: hervorragend, herausragend, sehr gut? Oder kann auch etwas bemerkenswert sein, ohne dass es „sehr gut“ ist? Aber was heißt nun wieder „sehr gut“?
Anders herum gefragt: Wann ist eine Aufführung (so) bemerkenswert, dass wir meinen, sie müsste nach Berlin zum Theatertreffen eingeladen werden? Diese Frage muss jede Jury jedes Jahr wieder neu für sich beantworten, ja die muss jeder Juror bei jeder Aufführung wieder neu für sich beantworten. Ich stelle mir dann meistens die Prüffrage: Würde ich einem Freund sagen, es lohnt sich, extra zu dieser Aufführung hin zu reisen, weil du dort etwas siehst, was du ganz selten oder sonst nirgendwo zu sehen bekommst? – Wenn ich diese Frage guten Gewissens bejahen kann, dann ist das schon mal ein starkes Indiz für ein JA-Votum.
Auf jeden Fall geht es immer darum, dass eine Inszenierung durch bestimmte Eigenschaften aus der Masse der Aufführungen heraus sticht. Dass sie etwas hat, was sie besonders macht – vor dem Hintergrund der Rezeptionsgeschichte eines Dramas vielleicht. Oder weil sie neue Impulse setzt: ästhetische vielleicht. Ich denke, dass unsere Jury – und ich sage mal: damit haben wir im vergangenen Jahr schon begonnen – unter „bemerkenswert“ weniger einen rundum gelungenen Hochglanz-Theaterabend in Vollendung versteht, sondern dass wir eine Jury sind, die tendenziell (nur tendenziell, nicht mehr, nicht weniger) als „bemerkenswert“ etwas Progressives, Neuartiges, Beispielhaftes, Maßstäbesetzendes versteht.
Die Besten?
Damit komme ich zu unserer Auswahl. Und dazu stelle ich jetzt mal fest: Das Theatertreffen 2012 zeigt nicht die zehn besten Aufführungen der Saison. Nicht im umgangssprachlichen Sinn von „gut, besser, am besten“. Das Theatertreffen 2012 zeigt vielleicht die zehn spannendsten, eigen-artigsten, streitbarsten, entschiedensten Aufführungen. Das Theatertreffen 2012 belohnt nicht (vorrangig) das Perfekte, das Meisterliche. Das Theatertreffen 2012 belohnt Innovation, Intelligenz, Mut. Auch den Mut zur Fehlbarkeit. Zum Unperfekten.
Selbstverständlich ist dabei jede der zehn Produktionen auf ihrem Weg sehr, sehr weit gekommen. Sonst wäre sie nur ein interessanter Versuch, aber in der Summe nicht bemerkenswert. Jede hat also ihren Zugriff, ihre Ästhetik, ihre Aussage „meisterlich“ präsentiert. Insofern sind es dann also doch die zehn besten Aufführungen. Aber die besten sind nicht immer jene mit Abschlussnote 1+.
(Mann, ist das schwierig zu beschreiben, ohne eitel zu klingen.)
Repräsentativ? Subjektiv!
In jedem Fall gilt für die Auswahl eines jeden Theatertreffens: Die Auswahl ist nicht repräsentativ. Das Theatertreffen bildet nicht beispielhaft das ab, was landauf, landab, tagaus, tagein in Deutschland, Österreich und der Schweiz insgesamt an Theater gezeigt wird. Um mit René Pollesch zu sprechen, dessen Stück KILL YOUR DARLINGS! Sie ja noch sehen werden: Beim Theatertreffen sind nur die Spitzen zu sehen. Das Exzeptionelle.
Die Auswahl ist nicht „gerecht“. Sie belohnt nicht besonders engagierte Häuser, die vielleicht mit wenig Geld viel Theater machen. Oder besonders kreative Häuser, deren Arbeit man endlich mal öffentlich würdigen will. Auch nicht besonders verlässliche Häuser, die kontinuierlich einen guten Standard halten. Es geht immer nur um die einzelne Aufführung. Und es geht am Ende nicht um einen Querschnitt, sondern es geht um das, was zurzeit wegweisend ist oder werden kann. Die Auswahl ist absolut subjektiv. (Was sonst?) Aber ebenso: absolut unabhängig. Wir müssen niemandem „gefallen“. Wir haben alle genug Rückgrat, dass wir uns mit der Auswahl nicht beliebt machen wollen, sondern dass wir in der Sache und um der Sache Willen streiten. (Auch wenn das manche Kollegen, siehe FAZ vom 3. Mai, anders unterstellen. )
Der Wettbewerb
Für die Theater ist eine Einladung zum Theatertreffen eine der größten Auszeichnungen, die sie bekommen können. (Das denke ich mir nicht aus; das merkt man daran, wie stolz die Theater mit einer Einladung Reklame machen; das merkt man daran, mit welchen Methoden manche Intendanten und Regisseure versuchen, die Jury in ihre Aufführungen zu locken, oder wie empfindlich sie reagieren, wenn sie befürchten, dass sie falsch wahrgenommen worden sind; und das merkt man daran, wie eine Einladung zum Theatertreffen den Marktwert eines Regisseurs und damit seine Gagen spürbar nach oben treibt.)
Die Theater und Regisseure stehen also jedes Jahr aufs Neue in einem Wettbewerb um die zehn zu vergebenden Einladungen zum Theatertreffen. Die Einladung ist wie ein Preis. Beim Theatertreffen selber gibt es dann aber keine Preise mehr. Jedenfalls nicht von den Berliner Festspielen oder der Theatertreffen-Jury. Alle zehn Produktionen sind in Berlin gleichberechtigt. Das finde ich großartig. Schluss mit dem Konkurrenzdenken. Lasst uns über die Kunst reden und nicht über Ranglisten.
Das Theatertreffen ist schließlich ein Festival. Und ich würde mir zum Beispiel wünschen, es kämen auch oder noch viel mehr Intendanten und Regisseure, die nicht mit ihren Aufführungen eingeladen sind, dennoch als Zuschauer zum Theatertreffen (auch wenn sie nicht schon um die Ecke in Berlin wohnen) – um einfach gemeinsam zu feiern, zu debattieren, zu genießen. Das geht doch bei der Berlinale auch: Da nehmen am Eröffnungsfilm auch viele Schauspieler und Filmemacher teil, deren Produktionen nicht im Wettbewerb oder überhaupt auf der Berlinale laufen; einfach, weil es darum geht, die eigene Branche zu repräsentieren und sich auszutauschen, auch einfach mal die Werke der anderen kennen zu lernen. Warum klappt das beim Theatertreffen nicht in dem Maß? (Oder ist meine Wahrnehmung falsch?) Sind Theatermacher missgünstiger als andere Künstler? Oder ignoranter?
Auch deshalb bin ich davon überzeugt, dass es die richtige Lösung ist, für das Theatertreffen eine Jury zu haben, die nicht in den Verdacht geraten kann, eigene Interessen zu verfolgen. So streitbar unsere Entscheidungen dann auch sein mögen. Unsere Aufführungs-Auswahl verstehe ich als ein Diskussionsangebot: über Regie-Stile, Themen, Konzepte, Ästhetik etc. Das ist das Theatertreffen. Nicht nur eine Leistungsschau, sondern ein Forum: zur Reflexion, zur Standortbestimmung, zur Auseinandersetzung, zur Inspiration (um dieses etwas kitschige Wort zu gebrauchen). Auch deshalb möchte unsere Auswahl 2012, so glaube ich, keine Auswahl sein, die man bequem abnicken kann.
Wobei ja lustigerweise aus der eher konservativen Ecke nun der Vorwurf laut wird, die Auswahl sei gerade überhaupt nicht kontrovers, weil sie sich einzig dem modernen Einheitstheatergeschmack andienen würde. – Eine kuriose Interpretation. Aber das können Sie selbst ab heute Abend beurteilen. Meine Prognose ist ja eher: Unsere Auswahl 2012 vereint eine so extreme Bandbreite, dass es keinen gibt, der alle zehn Inszenierungen toll findet. Auch keinen Juror. (Na gut, vielleicht einen oder zwei.)
Stadttheater und Freie Szene
Ich bin gebeten worden, abschließend noch zu zwei Aspekten eine Einschätzung abzugeben. Die erste betrifft das Kräfteverhältnis zwischen Stadttheatern und Freier Szene. Ich muss grundsätzlich vorweg schicken, dass ich kein Freund davon bin, Stadttheater und Freie Szene gegeneinander auszuspielen. Ich gehe gern ins Stadttheater und finde absolut, dass dieses Modell aus diversen Gründen eine große Berechtigung hat, auch wenn es manchmal opportuner erscheint, die Freie Szene als Allheilmittel für die kreative Zukunft des Theaters zu preisen. Unsere Auswahl zeigt, glaube ich, ganz gut, dass in beiden Modellen großartiges Theater entsteht.
Es gibt allerdings durchaus eine Entwicklung. Auch wenn die nicht nagelneu ist. Viele Stadttheater arbeiten inzwischen unter so hohem finanziellen Druck, dass sie wahnsinnig darauf achten müssen, dass die Kasse stimmt, also die Auslastung. Das führt zu künstlerischen Kompromissen und zu Konstellationen „auf Nummer sicher“. Das sagt man nicht gern laut, denn man will ja immer als kreativ und unabhängig gelten, aber es ist nicht von der Hand zu weisen. Es heißt auch nicht, dass dabei nicht auch großartige Theaterabende entstehen. Aber sie sind vielleicht seltener gewagt und radikal. Und in diese Lücke stößt nun zunehmend die Freie Szene.
Die Freie Szene wird immer professioneller (und nicht zuletzt dadurch auch fürs Theatertreffen interessant; die Produktionen können hier bestehen neben den großen Brocken vom Burgtheater oder dem Thalia Theater). Und die Projekte und Kollektive in der Freien Szene wählen sich sehr entschieden ihre Themen und kommen dann dabei zum Teil weiter oder sind kreativer als herkömmliche Drameninterpretationen am Stadttheater.
Das stellt dann eine Theatertreffen-Jury manchmal vor die Frage: Was ist jetzt bemerkenswerter – eine rundum gelungene Großproduktion oder eine eventuell nicht formvollendete, aber eigensinnig innovative Aufführung?
Ein Trend?
Das führt zum zweiten Aspekt. Er betrifft die vergangene Theatersaison generell. Wie war sie denn nun? Gibt es einen (neuen) Trend? Das sind dann auch gern mal die Fragen der Journalistenkollegen. Gegenfrage: Ab wann ist etwas ein „Trend“? Ich finde das Wort schwierig. Es ist mir zu marktschreierisch. Einen Trend kann man seriös nur über einen längeren Zeitraum und über eine größere Zahl von Inszenierungen ausmachen. Aber bitte, sprechen wir von Entwicklung.
Wenn ich also einfach mal ein paar Jahre zurück blicke in die Geschichte des Theatertreffens, sagen wir: nur fünf Jahre – ja, dann gibt es tatsächlich eine Entwicklung.
2007. Da gab es beim Theatertreffen zwei Inszenierungen von Jan Bosse, zwei Inszenierungen von Andreas Kriegenburg sowie Aufführungen von Jürgen Gosch, Michael Thalheimer, Sebastian Nübling, Nicolas Stemann, Dimiter Gotscheff – alles sehr arrivierte Regisseure. Es gab keine Projekte, keine Freie Szene, nichts wirklich Experimentelles – einfach sehr gutes, pralles, kluges Schauspiel. Das ist inzwischen anders. Es war vergangenes Jahr anders. Es ist dieses Jahr anders.
Nun ist es ja so (bei allem Enthusiasmus und allem Engagement): Die Theatertreffen-Jury macht und setzt keine Trends. Im Grunde wählen wir ja nur aus dem aus, was da ist. Insofern ist die Theatertreffen-Jury ein Seismograph. Sie ist immer wieder neu zusammengesetzt – deshalb kann man die Auswahl verschiedener Jahre auch nur sehr bedingt vergleichen. Aber: Wenn wir feststellen, dass wir heute, 2012, etwas anderes „bemerkenswert“ finden als 2007 – nämlich z. B. Produktionen wie JOHN GABRIEL BORKMAN, HATE RADIO oder BEFORE YOUR VERY EYES –, dann haben sich entweder die Kriterien verschoben oder das zur Auswahl stehende Potenzial an Aufführungen. Oder beides. In jedem Fall hätte sich die Kunstwelt und die Welt drum herum (die unsere Kriterien beeinflusst) verändert.
Dann wäre eine Entwicklung zu verzeichnen hin zu offeneren Produktionsformen, zu gewagteren Konzepten, zu spezialisierteren Zugriffen, etwas weg vom Mainstream, etwas weg vom Kulinarischen, vor allem etwas weg von der klassischen Drameninterpretation. (Wobei all diese Kategorien auch nur ganz wacklige Krücken sind.)
Es wäre auch falsch und verzerrend, so zu tun, als sei das ganze Theatertreffen 2012 nun ein Experimentierfeld à la JOHN GABRIEL BORKMAN. Es ist eine bunte, wilde Mischung. Aber das sagt ja auch etwas aus.
Vier Beobachtungen:
Erstens: Das Theater hat sich weiter diversifiziert. – Die Pole liegen extremer auseinander, die Produktionen richten sich zum Teil an sehr spezielle Publika.
Zweitens: Das Theater ist internationaler geworden. – Fremdsprachige Regisseure sind an vielen Bühnen mittlerweile alltägliche Gäste (und manche Häuser liefern sich einen Wettbewerb um das „internationalste“ Profil); wir gewöhnen uns daran, Theaterabende (wie HATE RADIO oder THREE KINGDOMS) nur über Übertitel verstehen zu können; in München hört man an den Kammerspielen nicht mehr nur bairischen, sondern auch holländischen Dialekt.
Drittens: Das Theater ist dokumentarischer geworden und darin sehr vielfältig. – Immer häufiger entsteht aus Alltagsrecherchen und Interviews eine Art O-Ton-Theater; nicht mehr nur literarische, sondern in Reenactments werden auch reale Figuren imitiert; „echte Menschen“ betreten die Bühne nicht mehr nur als Experten des Alltags, sondern als Akteure, die auf ihre Weise mit Fiktion und Fakten spielen.
Viertens: Das Theater ist interdisziplinärer geworden. – Nach dem Live-Video kommen nun die Live-Musiker ins oder über das Sprechtheater; Choreographen trainieren mit den Schauspielern Tanzelemente; Aufführungen (nicht nur in spleenigen Hinterhof-Theatern, sondern auch an großen Häusern) geraten zu Raum-Installationen und interdisziplinären Performances, wie man sie auch im Museum für moderne Kunst vermuten könnte.
Diese Entwicklung markiert auch den Versuch – und die Chance – des Theaters, neue künstlerische Relevanz zu erlangen. Das Theater wieder stärker als Ort des Diskurses, des Experimentes, der Überraschung ins Bewusstsein all derer zu rücken, die Theater für eine überholte Kunstform halten.
Wir als Jury des Theatertreffens versuchen, diese Lebendigkeit des Theaters als Kunstform widerzuspiegeln mit unserer Auswahl. Es ist wie bei einer Schlange: Das Theatertreffen durchläuft in seinem Leben viele Häutungen. Ich hoffe, dass die Haut Jahrgang 2012 frisch glänzt und das Theatertreffen ordentlich Biss hat.“
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