Weiß ist gefährlich. Das wird schnell schmutzig. Und tatsächlich, der kleine Chinese spuckt Blut, er hört gar nicht mehr auf. Bis der ganze weiße Boden verspritzt ist und der Chinese auf ihn drauffällt. Er ist tot. Verblutet, weil ihm seine Kollegen vom China-Thai-Vietnam-Restaurant „Der goldene Drache“ den schmerzenden Zahn mit einer Zange gezogen haben und die Wunde nicht stillen konnten.
Wenn der kleine Chinese kein illegaler Einwanderer wäre, hätte er zu einem ordentlichen Zahnarzt gehen können. So schmeißen die Kollegen den Leichnam in den Fluss, und der Körper kann eine lange Reise antreten. Er schwimmt durch die Weltmeere bis in seine Heimat China, dorthin zurück, wo er einmal mit großen Hoffnungen und ein bisschen Geld von der Familie aufgebrochen war. Aber bei Roland Schimmelpfennig, Autor und Uraufführungs-Regisseur des Stücks „Der goldene Drache“, gibt es das nicht. Dass sich Wünsche erfüllen.
Verwundert reibt man sich die Augen
Und Zufälle gibt es auch nicht. Der gezogene Zahn fliegt und fliegt durch die Luft, die fünf Schauspieler strecken ihre Finger Richtung Theaterhimmel, sie fahren seine lange Flugbahn nach. Bis der Zahn in den Wok fällt, wo er herausgefischt wird und weiterfällt, in die Suppe einer Stewardess, die über dem Restaurant wohnt. Und den Zahn später in den Fluss wirft, genau an der Stelle, an der auch sein Besitzer versenkt wurde. Wie gesagt, Zufälle gibt es nicht.
Schimmelpfennig ist zurzeit der meistgespielte deutschsprachige Autor. Und das, obwohl alle seine Stücke mit voller Absicht Rätsel stellen. Verschiedene Nebenhandlungen fügen sich zu einem dichtkomponierten Ganzen, Traum- und Wirklichkeitsebenen schieben sich übereinander. Verwundert reibt man sich die Augen. „Da ist jemand drin“, sagt der Mann über Sechzig, „in der Zahnlücke des kleinen Chinesen sitzt eine Gruppe von Leuten im Kreis.“ Siehe da, es ist die Familie des jungen Mannes, die im Angesicht des Todes noch ein letztes Mal Kontakt zu ihm aufnimmt. Wahrscheinlich ist es das, was so viele Regisseure reizt: Die Herausforderung, sich diesen bühnenuntauglichen, versponnenen Geschichten zu stellen. In der Wiener Burgtheater-Inszenierung, die zum Theatertreffen eingeladen wurde, hat Schimmelpfennig selbst Regie geführt. Und er inszeniert so, als wolle er zeigen: Seht her, ich habe Distanz zu meinem Text.
Bäumchen wechsel dich
Bühnenbildner Johannes Schütz, der viele Jahre mit dem im vergangenen Jahr verstorbenen Regisseur Jürgen Gosch zusammengearbeitet hat, der wiederum zahlreiche Schimmelpfennig-Dramen uraufgeführt hat, hat ihm dafür einen neutralen White Cube gebaut. Weißer Boden, weiße Rückwand. Eine sterile Oberfläche für eine anderthalbstündige Versuchsanordnung, in der die Schauspieler ständig ihre Rollen wechseln, sich einfach ein Tüchlein umbinden oder die Schürze abstreifen und schon jemand anders sind. Männer spielen Frauen, Alte spielen Junge, und umgekehrt. Sie vollführen ihre Beweisführung direkt an der Rampe. Wer nichts zu tun hat, sitzt im Hintergrund auf einem der Holzstühle. Gesprochen wird zum Publikum. Die Schauspieler skizzieren ihre Szenen, oft genügt ihnen eine bestimmte Geste, eine Körperhaltung, eine Tonlage.
Außer Christiane von Poelnitz: Sie schmeißt sich mit voller Wucht in dieses Bäumchen wechsel dich-Spiel. Als kleiner Chinese mit Zahnweh krümmt sie sich, der Kopf balanciert auf einer wackligen Halswirbelsäule, sie reißt die Augen und den Mund auf. Und winselt und winselt. Da ist man fast froh, als der Zahn endlich draußen ist und das Unheil seinen Lauf nehmen kann. Genauso wie man froh ist, als sie, nun der verlassene Mann im gestreiften Hemd, endlich so besoffen ist, dass sie nur noch träge dahindämmert. Zuvor war sie die Bühne abgeschritten, hatte die ausgebreiteten Arme gar nicht mehr nach unten gekriegt, so sehr Mann war sie. Kein Opfer mehr, sondern Täter. An der Schlachtbank Europas: Denn am Ende liegt auch noch die chinesische Prostituierte am Boden, Theaterblut-getränkt wie der kleine Koch. Möglich, dass es sich bei ihr um die vermisste Schwester handelt, von der er immer sprach. Der Mann im gestreiften Hemd hat sie misshandelt, so schlimm, dass sie an ihren Verletzungen stirbt.
Der Deal geht übel aus
Viel erfährt man nicht von der Frau, sie heißt die ganze Zeit nur „Grille“. Schimmelpfennig bedient sich hier der Fabel von der Ameise und der Grille. Das ist ein hübscher, erhellender Einfall, denn der Dramatiker liest die Geschichte sehr zeitgenössisch: Die Grille wendet sich an die fleißige Ameise und bittet sie um etwas zu Essen. Sie selbst hat den ganzen Sommer vor sich hingezirpt und kam nicht dazu, sich auf den Winter mit Vorräten auszustatten. Die Ameise schilt sie ob ihrer Faulheit. Und lässt sich dann doch auf den Tauschhandel ein: Musik gegen Essen. Im „Goldenen Drachen“ geht der Deal übel aus. Die Grille muss ihren Körper verkaufen. Barbara Petritsch spielt die Ameise, spielt den Hans, eine Karikatur, der vom Kioskbesitzer zum Zuhälter wird. Immer wenn die Inszenierung auf die Fabelanlehnung zurückspringt, lässt Schimmelpfennig die Schauspieler asiatische Klangschalen anschlagen. Das beschwört eine seltsam schwebende Stimmung herauf. Akustisch markiert er hier den Schlüssel zu seinem Stück. Ach was, zu seinem ganzen Werk.
Schimmelpfennigs Geschichten sind Gleichnisse, und wie es für Gleichnisse üblich ist, gibt es zwei Lagen: Den Plot und die Moral. In „Der goldene Drache“ kümmert er sich (neben seinen üblichen Themen Altern und Scheitern) um die handfesten europäischen Probleme der Flucht- und Migrationsbewegungen. Die Stewardess greift das sogar noch einmal in einem Nebensatz auf, als sie erzählt, dass sie aus dem Flugzeug ein Flüchtlingsboot auf dem Meer vor der Küste Afrikas entdeckt hat.
Sie kommen von überall her. Der Chinese ist einer von vielen. Als Autor windet sich Schimmelpfennig elegant aus der Erhobener Zeigefinger-Falle, indem er seinen Text magisch auflädt. Das hat seinen Reiz. Der Regisseur Schimmelpfennig legt noch eine Schicht Sachlichkeit drauf. Dadurch droht die Brisanz zu verschwimmen.