Das Theatertreffen – ein Ort der Debatte? Interview mit Thomas Oberender und Yvonne Büdenhölzer

Am Montag, den 12. Mai, begrüßte der Intendant der Berliner Festspiele Thomas Oberender das TT-Blog-Orchester mit Yvonne Büdenhölzer, Leiterin des Theatertreffens, in seinem Büro. Es gab Schokolade, Kaffee und jede Menge Gesprächsstoff. Das Twitter-Experiment, die Plagiatsaffäre und die Platel-Intervention hatten für Trubel gesorgt, und neben diesen eher unerwarteten Vorfällen wurde auch noch einmal die Festivalstruktur an sich thematisiert.
Am Vorabend des Interviews hatte es eine Intervention nach Alain Platels „tauberbach“ gegeben. (Lesen Sie auch unseren Bericht, Alain Platels Stellungnahme und die Antwort der Aktivisten darauf.) Da Thomas Oberender in einer kleinen Vorrede zu unserem Gespräch hervorhob, dass das Theatertreffen ein „Ort der Debatte“ sei, hakte TT-Bloggerin Hannah Wiemer direkt nach.
Hannah Wiemer: Frau Büdenhölzer, Herr Oberender, was sagen Sie zur gestrigen Intervention und dem Publikumsgespräch?
Yvonne Büdenhölzer: Mir ist es wichtig in einem Festival wie dem Theatertreffen Raum für solche Debatten zuzulassen. 2012 war es der Protest der Ernst Busch-Studierenden, die wir am Eröffnungsabend auf die Bühne gelassen haben, um ein Statement formulieren zu können. Über das ganze Festival haben sie hier im Haus für ihre Schule gekämpft. Im vorigen Jahr war es die Blackfacing-Debatte, die wir nach dem Festival in einer Diskussionsrunde verhandelt haben. Und jetzt ist es dieser Meinungsaustausch.

Thomas Oberender: Leider kann ich zu dem Publikumsgespräch gestern Abend nicht viel sagen, da ich in einer anderen Veranstaltung war. Aus einer übergeordneten Sicht denke ich, dass wir in einer Kultur leben, die zunehmend ohne reflektierende Distanz auf Ereignisse reagiert und eine Tyrannei des Gefühls erzeugt. Im Sinne eines unmittelbaren Echos der Echtzeitreaktion und -medien. Die berühmte Nacht, die man noch mal drüber schläft, gibt es nicht mehr. Kaum ist der Vorhang der Bühne zu, lese ich in Twitter oder auf nachtkritik.de wie die Vorstellung war. Diese Tyrannei des Tempos und der Subjektivität verändert auch das Verhältnis von Gegenwart und Erinnerung – irgendwann, könnte ich mir vorstellen, leben wir nur noch in einer gigantischen Echtzeitwolke, aber wer weiß. So eine rabiate Reaktion wie bei der Publikumsdiskussion gestern, die von den moralischen Protestprofis aus dem Ballhaus Naunynstraße sehr undemokratisch gekidnappt worden ist, wirkt da geradezu altmodisch. Oder vielleicht auch nicht. Ich habe das Gefühl, dass bei solchen Diskussionen schnell sehr viel Aggression, sehr viel Verletzungsbereitschaft und sehr viel Unduldsamkeit gegen jede Situation von Hegemonie mit im Raum ist. Plötzlich wird ein erfolgreicher Künstler wie Alain Platel, der seinerseits mit Künstlern, Stoffen und Sprachen derer arbeitet, die am Rand stehen, die behindert oder ausgegrenzt sind, von Extremisten angegriffen, die ihn als den Inbegriff des Establishments angreifen. Ich finde ein solches Publikumsgespräch aus diesen Gründen schon rein phänomenologisch interessant. Aber es liegt in der Art dieser gefühlstyrannischen Debatte, dass sie kaum noch Reflexionen leistet. Hier soll jemand, den man mit der „Macht“ identifiziert, ethisch kaltgestellt werden, wobei fast egal ist, ob die Fakten der Vorwürfe stimmen oder nicht. Dass in zwei Inszenierungen eines Stoffes Lumpen auf der Bühne liegen, bedeutet nichts. Die Inszenierungen selber sind fundamental verschieden in Haltung und Stil. Stoffe erfindet man nicht, sondern man findet sie. Und es können durchaus mehrere Leute einen Stoff finden, aufgreifen und aufführen. Der Rest ist Propaganda.
Nathalie Frank: Sie führen die Echtzeitreaktion auch auf die Folgen der Digitalisierung und des Internets zurück, wenn Sie zum Beispiel über nachtkritik.de sprechen. In der Eröffnungsrede zum Theatertreffen haben Sie aber vom Theater „als neuem Leitmedium eines neuen Zeitalters, an dessen Morgendämmerung wir stehen“, gesprochen. Wie ist das zu verstehen?
TO
: Meine These vom Theater als künftigem Leitmedium beruht sehr verkürzt auf folgender Annahme: Der Kapitalismus hat in seiner Geschichte unterschiedliche Dinge ausgebeutet. Zu allererst die natürlichen Ressourcen, Kohle, Öl, Gold, dann die körperliche Arbeitskraft bis hin zur Dienstleistung. Nach dem Geschäft mit der Hardware begann die Ausbeutung der Intelligenz, man ließ die „Software“ arbeiten. Es folgt die „Wetwear“ als Quell der Ausbeutung – das Feuchte, Körperliche ist das nächste große Ding, die Entzifferung der Gene. Und ich glaube, was jetzt kommt, ist die Realität selbst. Das Verwirtschaften der Wirklichkeit als Produkt ist das, woran momentan die komplette Intelligenz der Welt arbeitet. Genau das ist das Urthema des Theaters: Es stellt die Frage nach der Realität und hat auch eine sehr besondere Technologie entwickelt, wie man sie erzeugt, simuliert, steuert, beherrscht, ausbeutet, verwandelt -wie Sie wollen. Wie unwirklich Realität oder wie irreal Realität auf der Bühne ist, steckt in jeder Form von Theater. Sie wird immer unwirklicher je authentischer sie sein möchte. Das Verbergen einer Realität erzeugt eine Realität. Kultur im Allgemeinen lebt immer von einer Form ästhetischen Faltenwurfs. Man muss etwas über die Dinge legen, damit man eine autonome Form erhält. Und in dieser Form wird artikuliert, was man über diese Welt sagen kann. Es ist aber nicht die Sprache der Welt selbst. Und diese sehr vermittelte Form von Realität, die für die Welt steht und selbst eine Welt ist, das ist der Stoff der Kunst und speziell des Theaters. Ich glaube, dass, wenn wir in eine Welt hineinwachsen, in der unsere soziale und physische Realität zum Produkt, zur Ressource wird, zum nächsten großen Rohstoff, dann ist es das Theater, was da wieder sehr interessant wird. Künstler sind Antennen, die solche Prozesse als erste artikulieren. Noch bevor die NSA dieses Netz gebaut hat, haben Künstler darauf reagiert. In trivialer Form, in Science-Fiction oder in sonst etwas; in der Entwicklung anderer Produktionsformen, in anderer Art und Weise wie Kunst gemacht wird oder womit sich Kunst beschäftigt, was überhaupt Kunst ist. Und das ist auch in so einem Festival spürbar.
Nathalie Frank: Aber wie gehen Sie mit dem Widerspruch um, dass Theater das Leitmedium sein soll, aber nur fünf Prozent der Bevölkerung ins Theater geht? Das Theatertreffen selbst scheint nur Leute anzuziehen, die sich eh für das Theater interessieren.
TO:
Fünf Prozent sind ja schon viel. Bei den alten Griechen wurde man dafür bezahlt, dass man ins Theater geht. Aber seit das nicht mehr so ist, sind 5 Prozent historisch betrachtet nicht schlecht. Der Deutsche Bühnenverein behauptet, dass statistisch mehr Menschen ins Theater gehen als in Fußballstadien.
YB: Wir spüren, dass unser Publikum nicht voller Theaterdebütanten ist, sondern dass es sich auskennt. Ich empfinde das als ein Privileg. Das Publikum hier weiß meist genau, was es wählt, und was es bedeutet, wenn „Wiener Burgtheater“ auf der Karte steht. Hier verirrt sich kaum jemand hin, der sagt: „Ich will heute mal ins Theater gehen, also gehe ich doch zum Theatertreffen.“ Wir haben ein Stammpublikum, das immer wieder kommt. Unsere Zuschauer haben viel gesehen, das ist großartig und für ein derartiges Festivals auch unheimlich wertvoll.
David Winterberg: Aber ist das nicht genau das Problem? Wäre eine Durchmischung des Publikums nicht interessanter und sind die Schritte, die das Theatertreffen in Richtung Internet geht, nicht sogar zentral dafür?
YB:
Das ist wirklich ein Thema, das uns interessiert. Zum Beispiel haben wir als Berliner Festspiele mit der Bundeszentrale für politische Bildung die „Netzkultur“-Konferenz veranstaltet. Unser diesjähriges Live-Twitter-Experiment bei Castorfs „Reise ans Ende der Nacht“ wurde allerdings im Allgemeinen als gescheitert und langweilig empfunden. Es fehlte in der Meinung vieler der Mehrwert. Trotzdem finden wir es unglaublich wichtig Experimente einzugehen und das Theater dahingehend weiter zu öffnen.
Bianca Praetorius: Ich glaube, die Frage lautet, auf welchen Ebenen es langweilig war. Beim Nachlesen kann ich die Kritik des fehlenden Mehrwerts verstehen, denn es wird keine Literatur verfasst. Aber als Twitterer erlebe ich einen völlig anderen Theaterabend. Ich werde nie ganz von Bühnengeschehen eingesaugt, da ich die ganze Zeit das Geschehen dokumentiere oder kommentiere. Gleichzeitig habe ich einen sehr intensiven Abend gehabt, weil ich das Gefühl hatte, ich habe diesen Abend mit diesen 15 Leuten erlebt. Ich konnte ihre Gedanken und Impulse die ganze Vorstellung über mitlesen. Die individuelle Seherfahrung wird zu einer kollektiven. Außerdem baut die virtuelle Unterhaltung während der Aufführung Hemmschwellen ab. Es fällt mir leichter, im Moment der Irritation nachzufragen, was auf der Bühne gerade passiert, als später im Foyer zuzugeben, dass ich etwas nicht verstanden habe.
TO: Hier möchte ich mal kurz intervenieren: Wäre es dann nicht klüger, den Mund zu halten? Und sich das Geschehen auf der Bühne lieber noch wenig länger anzuhören, vielleicht verstehe ich dann die Sache besser. Das meinte ich vorhin mit dieser Tyrannei der Echtzeit. Ich will das Twittern dieses Jahr während des Theatertreffens lernen und ausprobieren. Aber ich habe zugleich Angst, dass mich das auffrisst und mich ständig in Parallelgespräche verwickelt. Ihnen hilft das ja scheinbar. Ich bin mir da für meine Natur etwas unsicher. In so einer Situation, also während einer Theateraufführung. Bei anderen Sachen: Ai Wei Wei ist vor meinen Augen in ein Taxi gezerrt worden! Aber ist es im Theater nicht klüger, den Mund zu halten und die Vorgänge genau zu beobachten, anstatt zu twittern?
BP: Da würde ich widersprechen. Aber es gibt heute ja noch ein anderes brisantes Thema: Was sagen Sie zu den Vorwürfen gegen die Jurorin Daniele Muscionico in der Plagiatsaffäre?
TO: Wie man so sagt: Was ich dazu zu sagen habe, steht auf der Website.
Wir gaben uns damit zufrieden, nicht ahnend, dass kurze Zeit später der zweite Plagiatsfall öffentlich gemacht werden würde.
Nach einem Austausch, wie man die Petition von Jörg Albrecht besonders unterstützen könnte (sehen Sie hier unseren Beitrag, Jörg Albrecht ist inzwischen auf freien Fuß), verließen wir das Büro.

Die Berliner Zeitung ist Partner des Theatertreffen-Blogs.

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Eefke Kleimann

Eefke Kleimann studiert Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Mainz. Dort arbeitet sie am Institut für Film-, Theater-, und empirische Kulturwissenschaft und in der Geschäftsführung des Theaterausschusses. Sie wirkte bei verschiedenen Projekten in der freien Szene Mainz und Oldenburg mit und arbeitete zuletzt für das internationale Kinder- und Jugendtheaterfestival Rhein Main Starke Stücke. Beim Theatertreffen 2013 hospitiert sie im Bereich Blog.

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