Wir trafen die Regisseurin Daniela Löffner zu einem Gespräch über ihre Inszenierung von Iwan Turgenjews „Väter und Söhne“ am Deutschen Theater Berlin, Entschleunigung am Theater und Durststrecken in der Gegenwartsdramatik.
TT-Blog: Daniela Löffner, herzlichen Glückwunsch zur Einladung zum Theatertreffen! Wo warst du, als du es erfahren hast?
Daniela Löffner: Auf der Probe in Zürich. Irgendwann so um zwölf oder halb eins sagte meine Kostümbildnerin Katja Strohschneider: „Hast du deine Mails schon gecheckt?“ Ich: „Nee.“ Sie: „Könntest du das bitte zeitnah tun?“ Dann war ich natürlich neugierig, hab es gemacht und da hatte mir Yvonne schon geschrieben und das Handy explodierte mit tausend Nachrichten. Danach war die Probe zu Ende, es wurde Sekt und Champagner geholt und wir haben alle gefeiert.
TT-Blog: War das ein Wunsch oder ein Ziel für dich, in deiner Karriere zum Theatertreffen eingeladen zu werden?
Löffner: Also ein Ziel kann ich so nicht sagen, weil ich, glaube ich, mich gar nicht getraut habe, das zu denken. Seit ich am Theater bin, kam mir das immer wie ein Olymp vor, da habe ich mich nicht hingedacht. Aber den Wunsch würde ich jetzt trotzdem nicht abstreiten.
TT-Blog: Du beschäftigst dich mit ganz unterschiedlichen Stoffen und Autoren – du inszenierst Gegenwartsdramatik ebenso wie Klassiker. Warum hast du dich für „Väter und Söhne“ entschieden?
Löffner: Ich habe eine Affinität zu den Russen. „Väter und Söhne“ kannte ich schon lange – als Ulrich Khuon [Intendant des Deutschen Theaters Berlin, Anm.] mir das Stück vorgeschlagen hat, habe ich sofort ja gesagt, weil ich noch wusste, dass da die Väter so weich sind und die Kinder so hart. Das fand ich spannend, weil das für mich so ein modernes Bild von Familie ist. Ich liebe ja Familiengeschichten. Also Russe, Familie und gar nicht das Gefühl, dass ich viel ändern muss, damit es heutig wird: das perfekte Stück für mich.
TT-Blog: Hast du mit deiner Formensprache und den Mitteln, die du verwendest, noch etwas hinzugesetzt, um das Stück noch gegenwärtiger zu machen?
Löffner: Wir haben das Stück sprachlich leicht verändert, aber versucht, es nicht pseudomodern werden zu lassen, und noch ein paar Dinge ausgetauscht, so dass man sich in jede Zeit gedanklich bewegen kann. In der Ausstattung haben wir ebenfalls ein bisschen gespielt. Bei mir in der Familie ist zum Beispiel Raclette immer ein unheimlich wichtiges Essen gewesen – es bedeutet für mich Familie und deswegen kommt es in der Inszenierung vor.
TT-Blog: In „Väter und Söhne“ haben wir es mit einer relativ kleinen Spielfläche zu tun, die von wenigen Zuschauerreihen eingerahmt wird. Dadurch ist das Publikum sehr nahe am Geschehen dran. Ist das ein Versuch, die Zuschauer zu einem Teil der Familie auf der Bühne werden zu lassen?
Löffner: Ja genau darum ging’s. Der Waffelgeruch sollte sich im Raum ausbreiten und einem selber in die Nase steigen, damit man Lust hat, sich dazuzusetzen und ein Teil dieser Familie zu werden. Wenn man diese Menschen über so eine lange Strecke beobachten kann, baut man eine andere Beziehung zu ihnen auf. Dass man sich da so nah wie möglich dran bewegt, auch emotional, das war mir wichtig.
TT-Blog: Heißt das auch, dass in deiner Bearbeitung die individuellen Konflikte der Protagonisten im Vordergrund stehen? Im Roman ist ja auch die gesellschaftliche Situation – damals Abschaffung der Leibeigenschaft und damit ein neues Gesellschaftssystem – ein größeres Thema. Schwingen gesellschaftliche Konflikte in den individuellen Konflikten im Stück mit? Ich habe das Gefühl, das verschmilzt irgendwie auch.
Löffner: Ja, absolut. Ich kann mich erinnern, dass wir viele Sachen noch hinein genommen haben, die eigentlich nur einen politischen Strang verfolgen. Gerade bei Bazarows Texten, weil ich im Buch oft fand, dass es individuell zerfasert. Und es stimmt, die Abschaffung der Leibeigenschaft und diese Dinge, die sind natürlich in unserer Version raus, weil sie einen dann so konkret in der Zeit festhalten. Dann wäre der Aufbruch auch ein alter gewesen. Die Welt der Eltern eher als die der Kultur und der Poesie zu verstehen und die Welt der jungen Generation als pragmatisch, das fand ich den interessanten politischen Ansatz.
TT-Blog: Und sind die Jungen im Stück wirklich pragmatisch?
Löffner: Nee, die nehmen sich das nur vor.
„Der könnte jetzt rauslatschen und zum IS gehen.“
TT-Blog: Ich finde es auch interessant an diesem Stück, dass die gesamte Figurenpalette einen festen Glauben an eine bestimmte Weltsicht hat und an diesem Glauben sehr stark festhält. Ist das etwas, was man in unserer Gegenwart brauchen könnte?
Löffner: Ich glaube, es braucht eine extreme Reibung. Ich fand immer, was Bazarow sagt, gleichzeitig interessant und gefährlich. Er beginnt damit zu sagen, es geht darum, dass die Menschen da draußen zu essen brauchen. Punkt und aus, Debatte zu Ende. Differenzierung ist mir egal, in dem Fall sind mir auch Emotionen egal. Ich finde auch den Gedanken spannend, dass er sagt, wenn die Gesellschaft einmal reformiert ist, dann ist es egal, ob man krank oder dumm ist oder gesund oder intelligent, dann kann eine Gesellschaft damit umgehen. Aber irgendwann sagt Bazarow, die Zeit der Demokratie ist vorbei und jetzt sind wir bei Beißen, Kratzen, Spucken und Vernichten, die analytische Phase wird jetzt abgelöst. Und auf einmal denkt man: Ja, der könnte jetzt rauslatschen und zum IS gehen. Da ist es eine Frage letztlich der Dosierung oder auch, wohin so etwas kippen kann, also wie Radikalität vernichtend werden kann. Trotzdem finde ich, dass es gut ist, wenn jemand klare Positionen äußert, dann kann und muss sich die Gesellschaft verhalten.
TT-Blog: Das Kritik-Üben kommt ja auch im Stück vor mit den beiden Studenten, die Nihilismus unter anderem als Credo definieren, grundsätzlich erstmal alles in Frage zu stellen.
Löffner: Ich verstehe sofort, was daran verführerisch ist. Wenn man das jetzt zum Beispiel auf politische Machtverhältnisse und Korruption und wirtschaftliche Zusammenhänge bezieht, also sich anguckt, wie viele Abhängigkeiten wir schaffen zwischen Politik und Wirtschaft, zwischen westlichen Industrieländern und Entwicklungsländern. Wo man sagen müsste, das müsste alles komplett neu überprüft werden. In dem Moment, in dem jemand sagt, wir müssen unser demokratisches Verständnis überprüfen, da wird’s dann meiner Meinung nach allerdings schwierig. Aber mit dieser Person müsste man sich dann einfach unterhalten.
TT-Blog: Wie stark fließen denn solche Grundsatzgedanken auch in deinen Arbeitsprozess ein?
Löffner: Das findet jeden Tag statt. Mir ist sehr wichtig, dass wir auf Proben viel reden und alle wissen, warum wir das heute machen und dass wir uns auf etwas verständigen. Es muss schon ein gemeinsamer Geist die Sache führen dürfen, damit die Theatermagie ihren Platz finden kann.
TT-Blog: Hast du das Gefühl, dass Theater diese großen (politischen) Fragen verhandeln kann? Ist das das richtige Medium dafür oder stößt man da auch an Grenzen?
Löffner: Also an Grenzen stößt man ja mit jedem Medium. Ich finde, Theater hat deswegen eine gute Chance, weil es ein Spiel „Was-wäre-Wenn“ ist. Dieses Spiel ist aber ziemlich real, weil die Leute real vor dir stehen. Und das heißt, letztlich können dir Begegnungen tatsächlich passieren, die nicht real sind, die aber die Kraft haben für Prophezeiung, für Vergangenheitsbewältigung, für Gegenwartsanalyse. Das macht meiner Meinung nach die unfassbare Kraft des Theaters aus. Einem Mensch, der vor dir steht und für dich spielt, zuhören ist immer noch ein sehr besonderer Moment und der wird auch immer wertvoller werden, weil wir das immer weniger suchen. Die Leute werden ja schon nervös, wenn sie ihre Handys ausschalten müssen, weil sie wissen, jetzt ist zwei Stunden Fokussierung angesagt, in unserem Fall sogar vier. Deswegen sind es aber auch unter anderem vier Stunden, weil ich sage, ich muss auch ein Plädoyer für Ausführlichkeit halten am Theater. Dass es nicht nötig ist, alles zu komprimieren und es manchmal wichtig ist, Schlaufen zu gehen und so sein eigenes Meinungsbild entstehen zu lassen. Ich wünsche mir eine Erkenntnis, die auf einer anderen Ebene als nur im Kopf stattfindet. Also auf einer Erlebnisebene, die die Seele längerfristig berührt.
„Man fängt meistens mit Gegenwartsdramatik an. Dabei ist das eigentlich fast das Schwerste.“
TT-Blog: Das ist, finde ich, ein toller Ansatz, der bei deinen Arbeiten schon öfter zu erkennen war.
Löffner: Hoffentlich, ja. (lacht) Ich versuche immer, nicht klüger zu sein als der Zuschauer und einen guten Einstieg zu ermöglichen. Und dann läuft der Ball und wird im besten Fall zur Lawine oder ein Rollrasen, der zu einer Blumenwiese wird oder so. Im besten Fall gibt es auch mit allen Figuren, selbst wenn sie später zu Mördern werden, am Anfang ein Identifikationsmoment. Ich kämpfe immer darum, die Figuren, die später zerstören werden, am Anfang sympathisch zu machen, weil ich eigentlich erzählen möchte, dass jeder von uns das werden könnte. Dass sich nur ein paar biografische Dinge verschieben müssen und schon geht der Pegel nach oben. Wir tragen das alle, glaube ich, in uns und deswegen ist die Entwicklung so wichtig. Keine fertigen Bilder, die sich von Anfang an durch die ganze Inszenierung ziehen. Mich interessieren immer Prozesse und Entwicklungen.
TT-Blog: Bei „Väter und Söhne“ sind ja Prozesse und Entwicklungen auch ganz unmittelbar zu sehen, schon allein durch die breite Palette an Altersgruppen auf der Bühne.
Löffner: Ich mag das im Theater sehr gerne, wenn es eine große Bandbreite an Leben gibt. Und gerade bei „Väter und Söhne“ ist mir der Aspekt wichtig, dass es so viele Generationen sind, vier insgesamt, und wir mit diesem Stück über Generationen für jeden einen Andockpunkt schaffen. Egal, wer da drinsitzt, er wird irgendjemanden auf der Bühne haben, der genauso alt ist wie er. (lacht) Und das finde ich spannend, sich da dann ins Verhältnis zu setzen.
TT-Blog: Und wird deine Beschäftigung mit den Russen noch weitergehen?
Löffner: Bestimmt! Jetzt nächste Spielzeit nicht, aber übernächste vielleicht. Ich habe wie viele Regisseure mit Gegenwartsdramatik angefangen, aber jetzt hat die klassische Seite ein bisschen aufgeholt.
TT-Blog: Du sagst, man beginnt mit Gegenwartsdramatik – woran liegt das? Sind das die ersten Stoffe, die einem angeboten werden, so für die kleineren Spielstätten?
Löffner: Ganz ehrlich: Ja. Die Theater wollen neue Stücke zeigen und die kommen erstmal auf die kleinen Bühnen. Dort inszenieren nicht die großen Namen, also machen das junge, frische Regisseure. Deswegen fängt man meistens mit Gegenwartsdramatik an. Dabei ist das eigentlich fast das Schwerste. Du weißt nicht, ob so ein Ding funktioniert, du weißt quasi noch gar nicht, wie du selbst richtig inszenieren sollst, überprüfst aber auch gleich einen Stoff auf seine Bühnentauglichkeit. Das schult natürlich auch extrem. Wenn man sich die großen Namen anschaut, da gibt‘s zwar diese Kopplungen Gosch und Schimmelpfennig, Kriegenburg und Dea Loher, aber abgesehen davon wird „da oben“ die Klassik inszeniert und so in der zweiten, dritten Liga werden die neuen Stoffe bearbeitet. Und das liegt, glaube ich, einerseits an den Stoffen, aber auch an den Theatern, die da nicht volles Risiko reingeben.
TT-Blog: Also wäre mehr Mut die Devise?
Löffner: Ja. Ich habe oft Gespräche mit Intendanten, die sagen: „Würde ich ja gerne machen, aber es kommt erfahrungsgemäß kein Schwein.“ Im Grunde genommen muss man durch eine Durststrecke der Erfahrung gehen, um zu sagen, welche Autoren sind‘s denn wirklich, die eventuell die große Bühne schaffen. Oder welche Regisseure können die auch gut inszenieren. Es ist ein Aufruf an alle Beteiligten wahrscheinlich, dass man sich da ein bisschen mehr trauen muss. Und auch an die Autoren, sich an große Themen wieder ranzuwagen und nicht im kleinen Bereich zu bleiben.
TT-Blog: Ich beobachte das im Moment auch stark. Es gibt viele neue Stücke mit kleinen Besetzungen und oft auch mit einer gewissen Unentschiedenheit, wo man hin möchte mit einem Stück oder mit einem Stoff. Immer wieder sind Stücke sprachlich so gut ausgearbeitet, dass der Inhalt nicht mehr hinterherkommt.
Löffner: Man muss es, glaube ich, schaffen, das Grundthema eines Stückes auf mehreren Ebenen einzuflechten. Das ist auch eine genaue Arbeit an Stücken, die oft fehlt. Das nervt mich irgendwie, ich denke dann, lieber ein Stück weniger und dafür ausdifferenziert. Denn das haben die dann schon gut gekonnt, die Jungs früher. Da kam‘s nicht vor, dass man einen Autor angerufen und gesagt hat: „Sag mal, ist das eigentlich jetzt die Schwester von dem?“ Und der Autor dann: „Ach, da hab ich mir noch nie Gedanken gemacht.“ Da krieg ich immer die Krise, wenn ich dann … Also wenn du jetzt Schiller angerufen hättest, hätte der genau gewusst, warum jede einzelne Silbe da steht. Und es ist trotzdem noch geheimnisvoll, es ist deswegen ja nicht alles ausdifferenziert. Elfriede Jelinek zum Beispiel, die hat einfach so eine Kraft und so einen Willen zu erzählen. Da würde ich auch behaupten, auf eine Art kann die alles begründen, was bei ihr drin steht. Das Anliegen ist so immens groß, das trägt dann auch. Aber irgendwo muss das Unbedingte liegen oder das, worüber man niemals verhandeln würde als Autor, in dem Thema oder in der Wucht der Anordnung oder wie auch immer.
TT-Blog: Und diese Unbedingtheit wäre dann eher in den Klassikern zu finden?
Löffner: Ja, die findet man da ohne Probleme. Das ist ja das Tolle, dass man dann da sitzt auf den Proben und denkt, wow, wie genau der hinguckt oder wie der Menschen sieht oder wie der … Deswegen mache ich auch den Beruf so gerne, weil es immer wieder tolle Begegnungen sind, auch mit Menschen, die schon lange tot sind. Aber irgendwie haben die es geschafft, durch die Matrix durchzugucken und deswegen wollen wir sie auch immer noch haben.
Das Interview führte Andrea Berger am 8. Mai 2016 im Deutschen Theater Berlin.