Halb(zeit)gedanken

Unsere Autorin nimmt einen Gedankenfaden vom Beginn des Festivals wieder auf, prüft, ob er noch hält - und fragt sich, warum eigentlich nie über Gigolos oder Mikado diskutiert wird.

Es ist kurz vor 22 Uhr. Ich sitze im leeren Redaktionsraum und habe noch eine Stunde Zeit, bis das Publikumsgespräch zu „John Gabriel Borkman“ beginnt. Energiedrinks stapeln sich hier, die Milch riecht komisch und irgendjemand hat mir den letzten Apfel weggefuttert. Ich bin schrecklich müde, die letzte Nacht war anstrengend. DJ Lars Eidinger gab sich nämlich die Ehre für das „Bergfest“ des Theatertreffens, also die Sause zur Halbzeit des Festivals. Er brachte tanzbare Musik, eine Menge Popzitate und ein paar Groupies mit und legte bis in die frühen Morgenstunden auf.
Seit meinen (Nacht)Gedanken ist eine Woche vergangen. Eine Woche, in der es von Montag bis Donnerstag kein Diskursprogramm gab, dafür aber Theatertreffen-Premieren noch und nöcher. Einige Highlights: Herbert Fritschs Rede anlässlich der Verleihung des Theatertreffen-Eispokals. Die kontroversen Diskussionen zu „Tyrannis“ im Oberen Foyer vor dem Publikumsgespräch zur Inszenierung. Die Kinder im Garten, die das Theatertreffen vollkommen ignorieren. Die Kantine, die auch spät abends noch warmes Essen zur Verfügung stellt.
Und einige Lowlights: Stefan Puchers Cyber-Inszenierung „Ein Volksfeind“, die an zu bemühter Aktualisierung scheiterte. Der in der Volksbühne eingerichtete VIP-Bereich und das vom Theatertreffen ausgerichtete Premierenbuffet bei „der die mann“ (chinesische Nudeln??!). Der an der Bar des Hauses der Berliner Festspiele erhältliche Whisky. Die Sperre der S-Bahn ab 21:30 Uhr.

Warum nicht mal Gigolos?

Bei den G10 überwiegen bisher die positiven Eindrücke. Das am Freitag wieder aufgenommene Diskurs- und Workshop-Programm leidet jedoch an Startschwierigkeiten und stotterndem Motor. Mich ließ die Stückemarkteröffnung am 13. Mai, in der viel von der künstlerischen Auseinandersetzung von Autor*innen mit großen politischen Themen wie zum Beispiel der Frage nach Teilhabe die Rede war, zwar ein bisschen informierter zurück (wenigstens was Modalitäten und Diskussionslinien der diesjährigen Stückemarktauswahl betrifft). Jedoch blieb das bohrende Gefühl im Magen, dass hier mit der Politik-Kunst-Debatte riesige Fässer aufgemacht werden, die erstmal gefüllt oder geleert werden wollen. Ähnliche Gedanken brachen sich am nächsten Tag beim „Künstler*innengipfel“ Bahn, einer Veranstaltung für Theatertreffen-Alumni, wo ebenfalls Riesenbrocken wie zum Beispiel das Thema „Kunst als Teil der Zivilgesellschaft“ verhandelt wurden – in 90minütigen Workshops. Warum eigentlich? Wäre es nicht auch spannend, sich mal über … Gigolos, Fernsehen oder Mikado Gedanken zu machen? Ich habe den Eindruck, dass das Theatertreffen lieber bestehende Diskurse aufgreift als neue anstößt.
Gut, dass nach dem Künstler*innengipfel Simon Stones „John Gabriel Borkman“ mit Schauspielstars wie Martin Wuttke und Birgit Minichmayr Glanz in die Bude brachte und DJ Lars Eidinger mir anschließend noch die letzten komplexen Gedanken aus dem müden Hirn blies. Und noch besser, dass am nächsten Tag der Theaterpreis Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung an Shermin Langhoff und Jens Hillje im Haus der Berliner Festspiele verliehen wurde. Denn die Reden von Sasha Marianna Salzmann, Yael Ronen und Nurkan Erpulat haben mich teilweise wirklich gerührt und danach gab’s gratis Brot.
Also, quo vadis zur Halbzeit, Theatertreffen? Die zarten Linien, die ich in den Nach(t)gedanken aus den ersten Tagen extrahiert habe, haben sich verändert.

Das Liniennetz des Theatertreffens

Linie 1 ist verschwunden: Die Jurymitglieder sehen inzwischen davon ab, ihren Auswahlprozess zu thematisieren – und ehrlich gesagt, diese Sache ist jetzt auch ausgereizt.
Linie 2 dagegen ist stärker geworden: Die Thematisierung des Blicks als potenziell von Schablonen, Assoziationen und Vorstellungen beeinflusstes und daher zu verhandelndes und gegebenenfalls zu veränderndes Instrument schwingt in fast jeder Inszenierung mit. Besonders stark in „Schiff der Träume“ und „Morgenland“, die beide mit Klischees arbeiten – „Schiff der Träume“ so bestätigend, dass sich das Klischee im besten Fall selbst dekonstruiert, und „Morgenland“ mit einer Aushebelung von Klischees durch eine Art Crashkurs in interkulturellem Verständnis.
Linie 3, die starken Setzungen, ist dominant wie eh und je, eine Konstante im G10-Programm. Vor allem Ersan Mondtag hat mit „Tyrannis“ durch eine formstrenge Inszenierung, die ohne verbale Sprache auskommt, starke Reaktionen ausgelöst. Dafür gab es Bravos und Buhs.
Einige neue Linien kommen heute dazu.
Linie 4 ist die Dating-Linie. Das Theatertreffen ist eine Beziehungsveranstaltung: Keine einzige Inszenierung, keine einzige Veranstaltung war bisher dabei, die für sich allein stand – jeder Programmpunkt verbindet sich mit mindestens einem weiteren Programmpunkt. Diese völlige Durchkomposition zeugt von einer stark geführten Konzeption des gesamten Festivals; eine Linie, die sich auch an der Zusammensetzung und thematischen Ausrichtung der Diskussionsveranstaltungen feststellen lässt.
Linie 5 führt das Motiv der Beobachtung ein, zentral in „Väter und Söhne“, „Tyrannis“ und der Stückemarkt-Performance „TRANS-“. Beobachtung ist in allen drei Inszenierungen nicht als wertend zu verstehen, sondern als Konzentration auf das Hier und Jetzt.
Linie 6 ist eine Welle. Das Theatertreffen schwankt zwischen kaum zu bewältigender Diskursfülle an den Wochenenden und Tagen, an denen abends „nur eine Vorstellung stattfindet“. An dieser Struktur lässt sich unmittelbar erleben, wie stark sich das Theatertreffen von einem Zeigen der Theater-G10 zu einer – wenn auch immer wieder mal holpernden – Diskussionsplattform entwickelt.
Es war also viel los in der letzten Woche, und mit zunehmender Müdigkeit verschwimmen die Grenzen zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Arbeit und Freizeit. Noch eine Woche läuft das Theatertreffen, und ehrlich gesagt: Hier zu sein wird immer wertvoller. Langsam setzen sich Eindrücke zu Bildern zusammen und Bilder womöglich zu Geschichten. Ich bin gespannt, was die nächsten Tage bringen.

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Andrea Berger

Andrea Berger, Jahrgang 1983, studiert Dramaturgie in an der Theaterakademie August Everding. Arbeitet als freie Produktionsdramaturgin, schreibt für das Münchner Feuilleton und assistiert beim Münchner Tanz- und Theaterfestival RODEO 2016. Lebt in München und Wien.

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