Die große plurale Rückschau

Nach drei Wochen zieht das gesamte tt-Blog-Team eine vielstimmige Bilanz, sortiert nach Eingang. Und dann ab.

Fazit im Bildformat. Jakob Kraze Foto: Yehuda Swed

Die Zeit während des Theatertreffens habe ich als eine sehr stürmische erlebt: viele neue Gesichter und Ideen, die einen mitreißen und manchmal auch umreißen können. Aber gerade das ist auch das Spannende – seinen Standpunkt zu verlassen und durch die Augen eines anderen zu blicken. Ich lernte neue Perspektiven kennen und gewann neue Erfahrungen. Das wiederum stärkt die Empathie und hilft, die anderen besser zu verstehen. Wir sind alle sehr unterschiedliche Persönlichkeiten und haben unsere Eigenheiten in die Redaktion eingebracht. Die Symbiose dieser Persönlichkeiten in einem Produkt, dem Blog, fand ich sehr spannend. (Anna Deibele)

Ich erinnere mich an ein Festival, an dem viele starke tolle Frauen beteiligt waren. Intendantinnen, Kritikerinnen, Blogkoordinatorinnen, Stückemarktleiterinnen – die Liste lässt sich fortsetzen. Das Theater bleibt ein Ort, an dem ich mich wohl fühle, mich freue, meine Leidenschaft teilen zu können. Das tt 2011 war für mich auch ein Festival mit einem jugendlichen Geist, mit vielen jungen Autoren, Schauspielern und Regisseuren sowie einem Herbert Fritsch, der energetisch gesehen kaum älter als 30 Jahre alt zu sein schien. Und She She Pop-Vätern, die sich nicht von der Herangehensweise ihrer Töchter abschrecken ließen und so ein selten emotionales Theatererlebnis zugelassen haben. (Grete Götze)

kultur kann von allen seiten wahrgenommen werden und sendet auch in alle richtungen aus. der blog ist ein möglicher weg, sich auszutauschen. Illustration: Johanna von Stülpnagel, mehr unter http://www.redenswinger.de/

Was für ein Theater ist das eigentlich, das sich da trifft? Ich denke, es lohnt sich, dieser Frage immer wieder nachzugehen. Denn in vielerlei Hinsicht ist das tt noch immer ein Stadttheatertreffen: Die meisten Produktionen kommen von dort, das Publikum ist großteils weiß und bürgerlich, und im Grunde funktionierte jede Inszenierung über einen Guckkastendiskurs. Selbst jene Produktionen, die aus der sogenannten „freien Szene“ eingeladen wurden, waren vergleichsweise brav. Auch wenn der selbst gestellte Anspruch des tt breiter zu sein schien, auch wenn man sich (u.a. mit den „Talenten“, zu denen auch wir Blogger_innen gehörten) einen jüngeren, internationaleren Touch geben wollte, war die Tatsache unübersehbar, dass das Festival hauptsächlich dank der Subventions- und Produktionsstrukturen des Stadttheaters bzw. dank der Berichterstattung durch das etablierte Kulturfeuilleton funktioniert. Der an uns Blogger_innen getragene Imperativ, „Seid doch kritisch!“ ist da nur Ausdruck einer hegemonialen Unsicherheit, die der fundamentalen Schizophrenie eines braven Elitefestivals, das beschließt, auch „cool“ sein zu wollen, entwächst. Mit Ausnahme von Andres Müry bei der Jury-Podiumsdiskussion traute sich aber niemand, das ernsthaft zu thematisieren. Vielleicht schaffen wir es ja mit dem tt11-Hashtag (#tt11), diese Frage noch ein wenig am Leben zu halten. (Leopold Lippert)

Vermisst: „Heimkehr des Odysseus“, Regie: David Marton, Schaubühne Berlin. Verpasst: zwei super Konzerte:  Sufjan Stevens und Animal Collective. Was ich gerne mal auf die Bühne machen würden: Ehrlich gesagt, das Gleiche wie Fritsch, viel Spass haben und machen. Fazit: Das Theatertreffen war einfach eine schöne Zeit mit vielen schönen Menschen, auf der Bühne, hinter den Kulissen und auf dem Dach. Ich habe noch nie so viel so schnell geschrieben, und über so aufregendes Sachen. (Matt Cornish)

Sitting in darkened theatres night after night you enter into discrete story bubbles, briefly living through others, their words washing over you and leaving you rather helpless in the best of cases. Critics cannot help but also suffer a constant, simultaneous narrative of their own, as they try to find words to capture their experience as audience members. The best plays I saw at tt11 made me drop that narrative, and just revel in the on-stage happenings. My favorite such moments strangely occurred when shows were stopped for musical sequences that were anything but interludes: She She Pop’s Testament had the much-lauded parent/child deejaying sessions, borrowing the intergenerational, deathless appeal of Dolly Parton’s original I Will Always Love You to embody the complicated love between parents and children. Die Beteiligten had the more controversial but nevertheless no less sublime mix of an Nazi-uniformed actor lipsyncing to Westernhagen’s Freiheit while strapped in a harness and flying over the stage as a recontextualized scene from The Sound of Music played out on the set and back wall. While the meaning of this latter scene remained obscure to me, I must confess, it still powerfully evoked the issue of complicity so central to the play. (Florian Duijsens)

Was war: Fast drei Wochen geschütztes Inseldasein auf der Theatertreffen-Scholle. Ein Luxusleben, das nicht von Dauer sein kann und darf. Die Erkenntnis, dass es sich noch immer über alte Themen wie Geschlecht und Kulturkampf zu streiten lohnt. Input und Inspiration, aber auch Sehnsucht nach mehr (geistigem) Schmutz und Lebensnähe. Was ich gerne noch getan hätte: Herbert Fritsch im Vorübergehen ein Bein gestellt. In Noras Spitzenschuhen und Sterntalerkleid auf der nächtlichen Bühne Schwanensee getanzt. In der Hollywoodschaukel im Garten in den Sonnenaufgang geschaukelt. Was ich gerne noch erlebt hätte: Wie Cory den „Yes-Dance“ tanzt. Und wie Matt das Pferd Halito entführt und wie ein Marlboro-Cowboy in Richtung seiner Heimat Colorado reitet. Was bleibt: Ein Vertrauen darauf, dass Theater vieles kann, und ein Wissen darum, dass vieles von diesem vielen noch lange nicht eingelöst ist. Der dringende Wunsch, an die Arbeit zu gehen, um daran zu werken. Viele keimende Gedanken, die es jetzt zu verpflanzen gilt. Das Gefühl, dass Theater viel mehr ist als das Theatertreffen. Der Wunsch, alles anders zu machen. Der Wunsch, viele Menschen aus diesen zwei Wochen wiederzusehen. Nicht unbedingt Herbert Fritsch. Aber Christoph Schlingensief. (Fadrina Arpagaus)

On the second-to-last evening of the 2011 Theatertreffen, I sat with an American who runs a theater company in New York City at a little Lebanese restaurant near Kottbusser Tor. A first-time visitor to both Berlin and the Theatertreffen, she said to me, „I don’t think there’s anything like this festival in the States. I mean, there’s BAM [http://www.bam.org/default.aspx], which invites a lot of productions to New York, but as far as the critical discussions going on here at the same time, I don’t think we have that.“ She hit the nail on the head; what really feels remarkable to me about the Theatertreffen is that nobody is there just to sit and watch some good plays and say, „Those were some good plays,“ and go home to bed. The Stückemarkt playwrights, the members of the International Forum, Iris Laufenberg, the Theatertreffen jury, theatermakers not specifically involved in the festival, theater critics, the audience itself – none of them are interested in putting up their feet and saying, „Now didn’t we do a good job? Isn’t theater in Germany just awesome?“ Instead, they’re interested in responding critically to the festival that they’ve helped to create, whether in an artistic, curatorial, or ticket-buying capacity. And this desire on everyone’s part to go beyond the point of just making something, to say, „We’ve made something; now what?“ – that is what made the Theatertreffen remarkable to me. What I expected going in: a showcase of the year’s best German-language theater. What I experienced: a platform where the current state of theater was examined in depth. As the festival bloggers we were constantly encouraged to be „more critical.“ At the end of the festival, I finally understand why: this is a festival that welcomes and encourages this examination, that views theater as something that is never finished. Our blog is unfinished too, hovering in a haze of debates abandoned and questions unanswered among the bloggers as our all-too-short time together came to an abrupt end. I hope in the spirit of the Theatertreffen itself we’ll continue the discussion, on Twitter (#tt11) and on our own blogs, as well as any time we run across one another in the world. (Cory Tamler)

was ich beim tt vermisst habe: bei den veranstaltungen des stückemarkts hatte ich manchmal das gefühl, dass ich gerade etwas vermisse, aber was das genau war… was ich wegen des tt verpasst habe: wahrscheinlich eine menge, auf jeden fall einmal den polizeiruf aus rostock, aber den kann man sich ja hinterher im internet angucken, und das habe ich dann auch gemacht.
 was ich gerne mal auf der Bühne machen würde (Herbert-Fritsch-Style): im erdboden versinken, das habe ich übrigens auch schon erfolgreich ausprobiert, die bühne ist nämlich nichts für mich. (Sophie Diesselhorst)

Das Werk / Im Büro / Ein Laptop: sie fände es unglaublich, wie schnell sich so unterschiedliche persönlichkeiten als redaktionsteam fänden, es sei sehr schade, dass dann, wenn der gemeinsame bordunton stärker zu hören sei, wenn sich debatten herauskristallisierten, alle stimmen wieder von ferne einzeln erklängen. sie wäre gerne zum cat stevens-yusuf islam-konzert gegangen, aber dann wäre ja jo schneider mit seiner ukulele am letzten tag vorbeigekommen und hätte kölsche lieder für iris laufenberg gesungen. andere würden sagen, das sei doch alles theater und theater sei eine lüge und lügen sei schön, alle kunst lügt, aber blogger lügen nie. I realized what a ridiculous lie my whole life has been. Dann gehen m’r schlafen, ud damit gutt. Ja, nö, ja, ja, nö….. (Kanakengesten zum Publikum). Die schönen Tage von Theatertreffen-Lagerfeuer-Garten-Aranjuez sind nun zu Ende. Auf in ein neues Leben! (Nikola Richter)

18 Tage Theater pur! Jeden Tag andere Gesichter, spannende Stücke, neue Themen. Diese vielseitige und aufregende Zeit habe ich zusammen mit sieben Bloggern aus aller Welt genießen dürfen. Sieben unterschiedliche Temperamente, die alle mit anderen Erwartungen und Haltungen in Berlin ankommen, um dort sich und das Theater aus einer anderen Perspektive kennenzulernen. Ich selbst habe in dieser Zeit ganz viele neue Perspektiven gesehen, aufregende Gespräche geführt, gearbeitet, gefeiert, diskutiert und viel Spaß gehabt. Und daher hoffe ich sehr, dass eine Gruppe, mit der man das alles auf so inspirierende Weise tun kann, über Eure Blogs in Kontakt bleibt, sich weiter gegenseitig austauscht, beflügelt und zur Reibung herausfordert. Es war eine tolle Zeit, DANKE an Euch alle! (Katrin Schmitz)

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Anna Deibele, 1982 im Nordkaukasus/ Russland geboren, mit neun Jahren nach Deutschland eingewandert, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin und Madrid. Seit 2007 arbeitet sie als freie Radio-Autorin aus dem In- und Ausland, unter anderem für die Deutsche Welle, Deutschlandradio Kultur, WDR Funkhaus Europa und mdr Figaro. Außerdem unterrichtet sie argentinischen Tango und Klavier. Sie lebt in Berlin.

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Cory Tamler, 1986 in Berkeley geboren, stammt aus Pittsburgh, Pennsylvania und wohnt in Berlin. Sie arbeitet als freie Autorin, Regisseurin und Bloggerin und zählt zu den Fulbright-Stipendiaten des Jahrgangs 2010/2011. Sie untersucht „Globalisierung auf Berliner Bühnen“. Ihre Theaterstücke wurden in Pittsburgh, Chicago, New York State und Augsburg aufgeführt.

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Fadrina Arpagaus

www.anna-deibele.com

Fadrina Arpagaus, geboren 1980 in Zürich, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Berlin. Während ihres Studiums hospitierte und assistierte sie am Schauspielhaus Zürich u.a. bei Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief und Schorsch Kamerun und in der freien Szene Berlins. Danach begann sie eine Dissertation mit dem Titel „Radikale Gefährdung. Subjektkonstitutionen in Theatertexten des 21. Jahrhunderts“ und arbeitete als Journalistin, unter anderem für "der Freitag" und Kulturkritik.ch. Zurzeit ist sie als Dramaturgieassistentin und ab nächster Spielzeit als Dramaturgin am Theater Basel engagiert, wo sie für das Schauspiel den Blog entworfen hat.

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Grete Götze

Grete Götze hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie deutsche und französische Literaturwissenschaft studiert und war Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau. Für den Hessischen Rundfunk arbeitet die freie Journalistin als Filmemacherin u.a. beim ARD-Kulturmagazin „titel thesen temperamente“, außerdem schreibt sie für die FAZ und nachtkritik.de. Sie hat journalistische Nachwuchsprojekte etwa bei der Theaterbiennale „Neue Stücke aus Europa“ und an der Mainzer Universität geleitet und ist Alumni des Berliner Theatertreffen-Blogs.

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Johanna von Stülpnagel

www.anna-deibele.com

Geboren im beschaulichen Voralpenland begann meine Reise durch die Fakultäten der Universitäten direkt nach dem Abitur: Germanistik (München), Design for Communications (London), Kunstgeschichte und Philosophie (Berlin). Zwei Abschlüsse später widmete ich mich dem Schreiben von Kurzgeschichten (www.redenswinger.de), den Lesebühnen und der Gründung eines neuen Berliner Stadtmagazins (www.bierstattblumen.de). Das Illustrieren hat sich quasi durch die Hintertür mit eingeschlichen - meine Zeichnungen sind das krakelige "Sahnehäubchen" der Kurzgeschichten. Ungelenk und scheinbar zufällig entstanden auf endlos weißem Hintergrund, eröffnen sie ein kleine Parallelwelt - als Antithese des Textes, als ironischer Kommentar oder schlicht als Ausdruck für das, was kein Wort je so gut beschreiben könnte.

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1986 geboren im tiefsten Rheinland, ging der Weg über das Theater Aachen zum Studium der Theaterwissenschaft und Vergleichenden Literatur nach Mainz. Zwischenstationen in Salzburg, bei NEUE STÜCKE AUS EUROPA in Wiesbaden und in Groningen (NL). Im Moment Praktikantin des Theatertreffen-Blogs und zeitweilig auch Blogautorin.

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Leopold Lippert

www.anna-deibele.com

Leopold Lippert, geboren 1985 in Mistelbach (Österreich), studierte Anglistik und Amerikanistik in Wien und Washington, DC. Nach einigen Unijobs arbeitet er momentan an seiner Dissertation zu Amerikanisierung und Performance. Er lebt in Wien, schreibt über Theater in wissenschaftlichen Zeitschriften, beim Online-Magazin fm5.at und auf seinem Blog.

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Matt Cornish, geboren 1983 in Los Angeles, hat einen Master of Fine Arts in Dramaturgie und Theaterkritik der Yale School of Drama. Derzeit macht er in Yale seinen Doctor of Fine Arts, dieses Jahr in Berlin im Rahmen eines Fulbright-Stipendiums. In seiner Dissertation untersucht er, wie deutsche Regisseure und Dramatiker seit 1989 die Geschichte der deutschen Teilung im Theater benutzt oder dargestellt haben. Er schreibt unter anderem für die Zeitschriften Theater, PAJ: A Journal of Performance and Art und TheatreForum.

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Nikola Richter, Jahrgang 1976, leitet seit 2009 das Theatertreffen-Blog. Sie ist Autorin und veröffentlichte Lyrik, Prosa und Hörspiele. Als freie Redakteurin entwickelt sie insbesondere Buch- und Blogkonzepte, z.B. newplays-Blog oder Los Superdemokraticos. Wenn sie offline ist, geht sie spazieren, kocht Gemüsegerichte und versucht, Jazzgeige zu lernen. Darüber schreibt sie auch auf myfavouritestrings.wordpress.com.

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Yehuda Swed, geboren 1983 in Israel, studierte an der Masa Acher School of Photography in Tel Aviv. Seit 2009 lebt er als freier Fotograf in Berlin und ist auf konzeptuelle Fotografie spezialisiert. Er arbeitet zusammen mit Instituten, Modedesignern, Models, Sängern, Schauspielern, Tänzern und anderen freien Künstlern.

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