Großes Theater, was nun?

Vor zweieinhalb Jahren ging Lehman Brothers pleite, die Theaterwelt protestierte kürzlich gegen die Schließung des Schauspielhauses Wuppertal, die Bundesregierung hat soeben die Milliardenhilfen für Griechenland durchgeboxt. Und auf dem Theatertreffen wird einem unbestimmten Krisengefühl stattgegeben.

Es stimmt schon, das Theatertreffen steht im Zeichen der Krise. Doch die Krise, die dieses Theater widerspiegelt, ist zur Lebenskrise ausgewachsen. Es geht um dieses mulmige Bauchgefühl, um Unsicherheiten und Ängste. Nicht um die großen ökonomischen Fakten. Das Private ist politisch. Liebesbeziehungen scheitern wegen Geld. Das ist bei Horváths Kasimir und Karoline so. Das ist bei Falladas Pinneberg und seinem Lämmchen so. Das ist bei David und seiner Frau so, in dem Stück des Briten Dennis Kelly, das auch noch „Liebe und Geld“ heißt.

„Ist mir doch egal“

Die Mittel, derer sich die einzelnen Stücke des Theatertreffens bedienen, um von all der Brüchigkeit unsrer Leben zu erzählen, könnten nicht unterschiedlicher sein. Elfriede Jelinek überschüttet den Zuschauer in „Kontrakte des Kaufmanns“ mit einem nicht abreißenden Textschwall. Die Stimmen des Kleinanlegers verästeln sich mit denen der Banker und Moralapostel zu einem dichten Gestrüpp. „Ist mir doch egal“, wer sie spricht, so Jelineks Regieanweisung. Sie erzählt nicht vom einzelnen kleinen Mann. Dafür lässt sie den Leser und Zuschauer ganz schön allein. Mit einer wirr-wortspielerischen Sprache in Zeiten, in denen keiner mehr richtig durchblickt.

Das Prinzip Überforderung

Wenn es etwas wie zwei Pole gibt, zwischen denen sich die Inszenierungen dieses Theatertreffens bewegen, dann ist Jelinek der eine und das Nature Theater of Oklahoma der andere. Für „Life and Times“ haben sich die New Yorker Theatermacher Kelly Copper und Pavol Liska das Leben ihrer Schauspielerin Kristin Worrall am Telefon nacherzählen lassen. Die über dreistündige Bühnenfassung endet beim sechsten Lebensjahr der jungen Amerikanerin. Die Erinnerungen springen, sie drehen Schleifen. Es geht um Knetmasse, Geburtstagskuchen und Mamas Haarbänder. Auf den ersten Blick hat das alles mit Krise wenig zu tun. Aber ist es nicht das, was wir uns wünschen? Während bei Jelinek schon alles zu spät ist, katapultiert dieses Musical jeden Einzelnen in jene gesättigten Zeiten, als noch Geld da war für Cocktailpartys, Eiskunst-Kurse und Schwimmstunden. Als es nichts zu fürchten gab. Außer vielleicht die komischen Nachbarskinder. Im Vergleich zu Jelinek ist der Inhalt banal, jedoch arbeiten beide Stücke mit dem Prinzip der Überforderung. Der Zuschauer badet im Textfluss.

Wo ist eigentlich Shakespeare?

Und was findet zwischen diesen beiden Gegenentwürfen statt? Da werden richtige Geschichten erzählt, wie in Horváths „Kasimir und Karoline“ oder Falladas „Kleiner Mann, was nun“. Beide, Drama und Roman, sind zu Zeiten der Weltwirtschaftkrise von 1929 entstanden. Den Stoff heute wieder auf die Bühne zu heben, ist ein Akt der Erinnerung (und deshalb vielleicht gar nicht so weit weg vom reinigenden „Nature Theater“?). Es hat etwas Beruhigendes, zu sehen und mitzufühlen, wie sich die Menschheit mit den immer selben Problemen abstrampelt.

Doch warum fehlen dann ausgerechnet in diesem Jahr die Klassiker in der Auswahl der tt-Jury? 2009 waren sie alle noch nach Berlin gereist, die Shakespeare-, Schiller- und Tschechow-Inszenierungen. Ihre Allgemeingültigkeit, ihre universalen Themen, all das kann man wohl gerade nicht gebrauchen.

Das Leben zwischen China und Container

Dafür gibt es Gesellschaftstableaus zeitgenössischer Autoren. Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ ist zeitlos. Auf einem Platz, der Weltbühne, treffen die unterschiedlichsten Menschen aufeinander. Schicksale kreuzen sich wortlos für einen kurzen Moment. Christoph Marthaler beobachtet bürgerliche Verlierertypen in einem Mikrokosmos, den er Riesenbutzbach nennt. Roland Schimmelpfennig verhandelt in seinem durchkonstruierten Stück „Der goldene Drache“ politische Themen wie Ausbeutung und Globalisierung – im kleinen Rahmen eines China-Restaurants. Dennis Kelly hüpft in „Liebe und Geld“ in verschiedene Dialoge hinein, hört kurz zu, bevor er sich dem nächsten Paar widmet. Da will einer den Kaugummi der anderen kauen, um ihr nahe zu sein, da bringt einer seine Frau um, weil er endlich einen Ford Mondeo will, bisher aber das Geld fehlte, weil die Gattin an Kaufsucht litt. Eine zwängt die Menschen radikal zusammen: Regisseurin Karin Beier hat den italienischen Film „Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen“ aus dem Jahr 1975 für die Bühne adaptiert und steckt das Prekariat in einen engen Container mit Fensterfront. Auch das eine kleine Welt.

Und noch etwas fehlt

Die tt-Jury hatte offensichtlich eine Sehnsucht danach, den Spiegel der Gesellschaft vorgehalten zu bekommen. Bemerkenswert, dass in der Auswahl das Doku-Theater à la Rimini Protokoll fehlt. Wer Laien auf die Bühne stellt und ihre Geschichte erzählen lässt, holt sich doch das pralle Leben ganz mühelos auf die Bühne.

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Anna Pataczek

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