Die Regisseurin Anna-Sophie Mahler zählte zu den vielen Newcomer*innen beim diesjährigen Theatertreffen. Mit unserem Autor sprach sie ausführlich über ihre eingeladene Bühnenadaption von Josef Bierbichlers Roman „Mittelreich“.
TT-Blog: „Mittelreich“ ist die einzige Inszenierung beim diesjährigen Theatertreffen, die außerhalb von Berlin entstanden ist, aber nicht im Haus der Berliner Festspiele gezeigt wird. Stattdessen spielt ihr die Produktion im Deutschen Theater. Wie kommt das?
Anna-Sophie Mahler: Das hatte in erster Linie akustische Gründe. Wir hätten im Haus der Berliner Festspiele die Musik verstärken müssen und vermutlich auch die Sprache, weil die Schauspieler in der Produktion sehr intim sprechen. Da hätten wir für die Wiederaufnahme viel Zeit gebraucht, um eine gute Balance hinzukriegen. Außerdem haben wir schnell gemerkt, dass man im Deutschen Theater als Zuschauer sozusagen immer mitten im musikalischen Klangraum sitzt und auch sehr nah dran am Geschehen ist. Das fanden wir gut, weil man sich dann den Geschichten, um die es im Roman und in der Inszenierung geht, nicht so schnell entziehen kann. Das ist ja schwer. Das sind bekannte Themen. Und dann geht es schnell, dass man sich denkt: Ach ja, kenn ich. Und diese Distanznahme, das darf man nicht, find ich. Hier im Deutschen Theater hat man viel mehr das Gefühl, dass da ein Sargdeckel auf dem Ganzen drauf liegt. Man kommt da nicht raus und das hat was Beklemmendes.
TT-Blog: Worum geht es für dich in „Mittelreich“?
Anna-Sophie Mahler: Zum Einen geht es im Wesentlichen um das Trauma des sexuellen Missbrauchs des Jungen Semi und um die ausbleibende Aussprache mit seinen Eltern – dieses Gefühl einfach verloren gegangen zu sein oder allein gelassen worden zu sein.
Und dann sind die Traumata der beiden Weltkriege ganz zentral, über die nie gesprochen wird. Man baut nach 1945 auf den Trümmern eine Familie auf und zieht die Kinder groß, aber redet nicht über das, was passiert ist.
Der dritte wichtige Strang sind die Geschichten, die jetzt wieder sehr aktuell sind, nämlich die vielen Beschreibungen von Flüchtlingen, die in der Nachkriegszeit in der BRD und eben auch auf dem bayerischen Land angekommen sind. Die wurden dort zwar aufgenommen, aber das war auch damals schon eine große Problematik. Einerseits haben diese Einwanderer da eine Heimat gefunden, auf der anderen Seite blieben sie eigentlich immer Fremde.
TT-Blog: Nimmst du den Stoff als spezifisch bayerisch wahr?
Anna-Sophie Mahler: Ich finde ihn auf jeden Fall sehr deutsch. Und ich finde, dass wir alle sehr geprägt sind von diesen Kriegen – auch die Generationen, die nicht selber dabei waren, aber die traumatischen Erlebnisse ihrer Eltern weitertragen. Interessanter Weise kam aber gestern nach der Vorstellung jemand zu mir, der meinte, für ihn war’s total bayerisch. Für den war das ganz klar eine bayerische Familie. Ich glaube, wenn man die Gegend sehr gut kennt, weiß man sofort, wo es verortet ist, aber es geht schon deutlich darüber hinaus.
TT-Blog: Josef Bierbichlers Roman ist knapp 400 Seiten lang und umfasst eine Zeitspanne von etwa 70 Jahren. Was habt ihr rausgeworfen? Ihr musstet euch ja auch gegen viele Motive entscheiden, die im Roman vorhanden sind.
Anna-Sophie Mahler: Ja, ganz viel haben wir raus gelassen. Da sind ja auch wahnsinnig viele Seitengeschichten oder einfach Beschreibungen von Leuten, die dort auf dem Land leben. Alle wunderschön. Aber dadurch, dass wir gesagt haben: Es geht uns in erster Linie um den Erinnerungsraum der Figur Semi, war einfach klar, dass die engsten Menschen um ihn herum, also seine Eltern, seine Tanten, der Knecht, die Frau Zwitter, die ihn als Kindermädchen aufgezogen hat, bei uns eine wesentliche Rolle spielen. So haben wir alles auf diese Familienkonstellation und den Konflikt, den Semi einfach nicht los wird, zugespitzt.
TT-Blog: Würdest du sagen, dass dadurch aus dem Roman auf der Bühne noch stärker eine Familiensaga geworden ist?
Anna-Sophie Mahler: Das wurde auf jeden Fall verschärft. Im Roman bemerkt man überhaupt erst sehr spät den Ich-Erzähler. Bierbichler meinte gestern selbst noch mal zu mir, er findet die Inszenierung kongenial zu dem Roman, weil sie seine Essenz zum Vorschein bringt, was mich natürlich sehr gefreut hat. Im Buch bemerkt man das gar nicht so schnell, weil es da ja noch um ganz viele andere Sachen geht. Aber auch da hat man beim Lesen immer mehr das Gefühl: es ist etwas in dieser Familie, was Semi nicht loslässt.
TT-Blog: Wie seid ihr dann an die Aufgabe heran gegangen, eine Bühnenfassung zu erstellen, die einerseits einer szenischen Darstellung auf der Bühne gerecht wird und andererseits auch den Musiktheateraspekt daran stark macht, der dir ja sehr wichtig war?
Anna-Sophie Mahler: Der Roman ist ja bereits ziemlich musikalisch, auch sehr musikalisch gedacht. Aber es ist eben immer die Frage, ob man auch etwas findet, das einen so antriggert, dass man sagt: Jetzt kann man’s machen. Und das war für mich dann die Beerdigung des Vaters am Ende des Buches und dieser kleine Nebensatz dort, dass dabei das Brahms-Requiem aufgeführt wurde. Diese Beerdigung ist dann die Klammer geworden, die wir für die Bühne gesetzt haben. Das fand ich auch emotional einen guten Moment. In dem Augenblick, wo man seine Eltern verliert, denkt man ja auch noch mal über sich nach: Aus was setzt man sich eigentlich zusammen? Von was ist man geprägt? Wie sehr hat man seine Eltern überhaupt gekannt? Das war also der Ansatzpunkt, von dem man das Ganze sehr gut aufdröseln konnte – als Erinnerungsraum des Sohnes Semi. Es ist auch gar nicht klar, ob diese anderen Figuren überhaupt real anwesend sind oder ob er mit denen im Kopf einfach noch nicht fertig ist.
TT-Blog: Und diese kurze Erwähnung des Requiems von Johannes Brahms war dann die Initialzündung für das Konzept der Inszenierung?
Anna-Sophie Mahler: Für mich war das der Schlüssel, um überhaupt eine Form zu finden, wie ich an den Roman herangehen kann, nämlich dieses Brahms-Requiem zu nehmen und zu sagen: Das ist die Struktur! Das hat mir auch gefallen, weil es eigentlich kein sehr religiöses Requiem ist, sondern ein Requiem für die, die noch da sind, die also die Trauer tragen und mit ihr umgehen müssen. Auf diese Weise hatte man also eine Form gefunden. Dadurch wusste man, man muss durch dieses Requiem durch. Dann war auch ziemlich schnell klar, dass alle Schauspieler die Soli singen und dass wir einen Chor brauchen. Und man wusste: Wir fangen mit dieser Beerdigungssituation an, von der aus wir dann in die Vergangenheit der Familie springen können.
Ich glaube, wenn ich so eine Struktur nicht gehabt hätte, hätte ich keine Fassung machen können. Unmöglich. In dem Roman gibt es so viele tolle Geschichten. Es gäbe so viele Möglichkeiten anzufangen… Und für mich ist es dann eben ganz wichtig, dass ich mir selbst einen Zwang auferlege, damit ich weiß: Ich muss da jetzt durch und es muss auch in dieser Reihenfolge sein. Wobei es dann gar nicht so leicht ist, das später auf der Bühne umzusetzen. Denn so eine Struktur ist natürlich ein sehr starkes Korsett, in dem sich auch die Schauspieler bewegen müssen. Das zum Leben zu erwecken, ist ein Prozess, den man in den Proben dann erst mal durchmachen muss.
TT-Blog: Das heißt, ihr habt im Grunde versucht, aus diesem Roman unter Zuhilfenahme des Requiems eine Opernstruktur zu bauen?
Anna-Sophie Mahler: Auf jeden Fall eine etwas fertigere Struktur. Es wird ja nicht durchgesungen oder so. Aber trotzdem kommt das schon aus dieser Richtung. Deswegen haben wir auch gesagt, dass es eigentlich eher Musiktheater ist als Theater.
TT-Blog: Das heißt, das Musiktheater kommt gar nicht nur daher, dass Musik im Stück vorkommt, sondern auch dadurch, dass der Bauplan des Ganzen nach musikalischen Kriterien angefertigt wurde?
Anna-Sophie Mahler: Ja. Vielleicht. Das ist auch tatsächlich der große Unterschied, dass man im Musiktheater schon viel mehr Zeiteinteilung und Emotionalität vorgegeben bekommt. Natürlich gibt es die langen Strecken, die auch wirklich Schauspiel sind und da muss man dann schon anders vorgehen. Aber das sind eben enge Fenster. Das macht es auch so schwierig für die Schauspieler, das alles zusammen zu kriegen: das Singen, die Emotionalität, den Bogen. Aber wir haben auch gemerkt: Es ist total wichtig, dass wir an dieser Fassung festhalten. Man kommt dann da nicht mehr einfach so aus der Sache raus, weil die Gesamtkonstruktion insgesamt so gedacht ist.
TT-Blog: Wie war es denn, gesanglich so intensiv mit den Schauspielern zu arbeiten? Das ist ja für sie in dieser Größenordnung sicherlich auch ungewohnt gewesen.
Anna-Sophie Mahler: Ja, aber sie hatten total Lust darauf. Am Anfang haben sie schon kurz geschluckt, als ich ihnen gesagt habe: Ihr singt die Soli. Aber dann meinten alle: Doch, ja, ich probier das! Und ich habe ja den musikalischen Leiter Bendix Dethleffsen dabei gehabt. Der ist genial darin, Schauspieler zum Singen zu bringen. Das macht er auch ganz viel bei Marthaler. Und das hat dem Ensemble dann auch großen Spaß gemacht. Dabei ist Bendix sehr streng. (lacht)
TT-Blog: Von meiner Wahrnehmung her ist die Musik in der Inszenierung am Anfang noch sehr präsent und tritt dann zunehmend zurück zugunsten des reinen szenischen Schauspiels. Wie kam es zu dieser Entscheidung und was bedeutet das für die Rolle der Musik im Stück insgesamt?
Anna-Sophie Mahler: Es war schon ziemlich klar, dass der erste Teil konzertant gedacht ist und die Musik darin eine tragendere Rolle spielt, sodass man von dort aus sozusagen in den Roman rutscht und sich im zweiten Teil dann wirklich in diesem Zustand befinden kann. Da wird die Musik dann eher theatral oder situativ genutzt.
Ich finde es ganz interessant, dass Musik am Anfang der Inszenierung noch ein starkes emotionales Mittel ist und Semi sie dann zum Schluss gewissermaßen zerstört, indem er in der Schlussszene diesen Plattenspieler zuhaut. Musik ist ja auch Geschichte beziehungsweise etwas, wo man von den Eltern geprägt ist oder was man aus anderen Zusammenhängen kennt und immer mitträgt – Ballast, der auch irgendwann mal weg muss. Insofern finde ich es auch gut, dass in der Inszenierung die Musik insgesamt allmählich weniger wird und am Ende verstummt.
Das hängt aber auch mit dem Roman zusammen, weil man da am Anfang viel mehr Erzählungen hat und man später zunehmend stärker in einzelne Situationen kommt, zum Beispiel die Abrechnungen mit den Eltern. Da wird es ohnehin dramatischer.
TT-Blog: Wobei „Mittelreich“ alles in allem ja schon eine ziemlich hybride Theaterform ist, in der Musik und Schauspiel miteinander verwoben werden und auch die Erzählweise offener funktioniert als im klassischen Drama. Was für ein theatraler Raum etabliert sich da eigentlich auf der Bühne?
Anna-Sophie Mahler: Das ist das Schöne daran, dass wir das Geschehen als Erinnerung denken, weil man dann sehr assoziativ arbeiten kann. Man muss nicht linear vorgehen. Man muss nicht alles erklären. Stattdessen kann man immer an diese emotionalen Knotenpunkte ran. Und dadurch, dass wir so viele verschiedene Mittel haben, wie die Musik, die Sprache, die Erzählung, dann dramatische Situationen und dieses Bühnenbild, das einmal die Jetztzeit ist und dann aber nochmal die Erinnerung, hat man unterschiedliche Parameter, die man immer wieder neu zusammensetzen kann. So wird der Zuschauer auch länger in der Schwebe gehalten: Wo befindet man sich eigentlich? Von wo muss ich das jetzt eigentlich lesen? Ich mag, dass man sich auf diese Weise erst nach und nach erschließt, wo man eigentlich rein gerät.
TT-Blog: Diese Freiheit im Umgang mit dem Material kommt ja auch daher, dass ihr anstelle eines Dramas einen Prosatext als Ausgangspunkt der Arbeit hattet und ihr euch darum etwas einfallen lassen musstet, wie man das auf die Bühne bringt. Was würdest du denn nach deinen Erfahrungen über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten von Romanadaptionen im Theater sagen?
Anna-Sophie Mahler: Mir macht das Spaß. Man muss da immer etwas konstruieren und bauen und kommt dadurch nie in die Gefahr, reines emotionales Szenentheater zu machen. Das ist immer noch mal anders gerahmt. Und das gefällt mir eigentlich sehr gut. Für mich ist das ein interessanterer Ansatz, als ein fertiges Theaterstück zu inszenieren. Man muss eine eigene Form finden. Das ist eine schöne Aufgabe. Und die kann ich mir für mich auch wieder vorstellen.
Das Interview führte Falk Rößler