Das Theatertreffen zeichnet nun seit 51 Jahren die bemerkenswerten Stücke einer Saison aus. Wohl gemerkt die bemerkenswertesten Stücke, nicht die besten. Man will sich ja nicht angreifbar machen. Aber was ist denn bemerkenswert? Da sich das bisher nicht mit meiner Vorstellung deckt, hier der Versuch einer subjektiven Klärung.
Zum einen steckt in dem Wortkonstrukt der Wert. Der Wert kann zum einen ein monetärer Wert sein, aber im Theater? Das Theater ist ein Ort unserer Kulturlandschaft, der keinen Cent Gewinn macht. In Berlin wird eine Theaterkarte mit circa hundert Euro bezuschusst (Stand 2011), und das ist auch gut so. Es kann also nicht darum gehen, welche Inszenierung das meiste Geld einspielt. Zum Glück gibt es ja dann noch den ideellen Wert. Diesen sollten wir uns mal ansehen. Laut Wikipedia ist „Der Ideelle Wert […] eine subjektive (das heißt auf die Wertvorstellung der einzelnen Person bezogene) Wertform, die aufgrund einer emotionalen Bindung zur Sache unter Umständen einen höheren Wert darstellt, als dies finanziell gemessen tatsächlich der Fall ist.“ Dieser Wert ist wohl eher geeignet, um ihn hier als Grundlage zu nutzen. Also geht es wohl eher um persöhnliche Wertvorstellungen und aus der eigenen Perspektive geschaffene Normen, oder?
Jedoch ist das nur einer der beiden Teile, die hier zu unserer Auszeichnung führen. Der zweite Teil ist das Bemerken. Etwas zu bemerken, fordert Aufmerksamkeit. Der Gegenstand, der wahrgenommen wird, bekommt eine gewisse Wichtigkeit zugesprochen und wird also bemerkt.
Bringt man jetzt beide Begriffe zusammen, müssen die Inszenierungen, die hier geadelt werden, zum einen aus der jährlichen Masse von über 3000 Premieren im deutschsprachigen Raum herausstechen und überhaupt bemerkt werden. Im zweiten Schritt müssen sie einen hohen subjektiven Wert haben. Hier ist das Theatertreffen also für immer unangreifbar?
Die Berliner Festspiele bzw. die Leitung des Theatertreffens bestellen die Jury. Dieser, zur Zeit aus 7 Personen bestehende Kreis nominiert nach seinen Wertvorstellungen die zehn bemerkenswertesten Stücke aus 3000, und von diesen 3000 werden wiederum auch nur circa 400 Stücke angeschaut. Warum kommen dann diese 10 Inszinierungen aus nur fünf großen Häuser? (Wurde auch in der Diskussion zum Stadttheater thematisiert) In der Woche, die ich jetzt hinter die Kulissen des Theatertreffens geschaut habe, hörte ich über diese Werte auf den Fluren des Hauses der Berliner Festspiele das Folgende: Man will keiner Produktion zumuten, vor dem Berliner Publikum durchzufallen, ja, sie im Vergleich untereinander, schlecht aussehenlassen, weil die eine Produktion sich keine so tolle Ausstattung leisten konnte wie eine andere. Aber ginge es nicht auch anders herum? Ist bei einer guten Idee nicht die Opulenz der Mittel egal? Wenn nun neun erfinderische, kluge und innovative Inszenierungen eingeladen wären, welche aus egal welcher Produktionsstätte, frei oder städtisch, stammen, die vielleicht mal den Bühnenraum verlassen, Inszenierungen also, die nicht von da oben für uns hier unten gemacht werden – würde dann nicht die eine große Produktion plötzlich ganz klein und verstaubt wirken? Wer hat uns eigentlich im Vorfeld gefragt, was wir als Berliner Publikum bestehen lassen? Mich hat keiner gefragt. Jetzt sitze ich hier und bin gelangweilt von dem, was andere als bemerkenswert betrachten. Bemerkt sei dazu noch, dass Robert Borgmanns Stuttgarter Inszenierung von „Onkel Wanja“, gemessen an den Buh-Rufen und der Zuschauerflucht zur Pause, wohl nicht bestanden hat. Ist aber bemerkenswert.
Ich würde gerne einen ähnlichen Begriff wie bemerkenswert hinzunehmen: merkwürdig.
Wenn ich diesen Begriff wieder in seine Bestandteil zerlege, kommen wir zum einen erneut auf das Merken. Hier ist jetzt der Prozess des Bemerkens abgeschlossen, und wir speichern das Auffällige ab. Hinzu kommt jetzt die Würde. Der Duden spricht hier davon, dass etwas Würde ausstrahlt. Also ist ein Wert, der sogar eine ehrenvolle Strahlkraft besitzt. Kommen die beiden Wort jetzt zusammen zum Merkwürdigen, erhalten sie einen negativen Anstrich. Als Beispiele nennt hier der Duden: „Merkwürdige Gestalten treiben sich dort herum“ oder „sein Verhalten ist merkwürdig“. Das heißt: Der ist nicht wie wir sind, den möchte ich jetzt gerne mal treffen oder der verhält sich ja wie alle. Und genau das würde mich doch jetzt mal brennend interessieren! Was im deutschsprachigen Raum Produzierte verhält sich denn merkwürdig! Wer sind denn hier die merkwürdigen Gestalten? Klar ist es heute nicht mehr so einfach, etwas Neues zu entwickeln. Alles wurde schon gemacht und gedacht und, ach, uns geht es ja so schlecht, die Lage ist sogar alternativlos!
Nehmen wir ein Beispiel, einen Sturm. Durch das Verschieben von kalten und warmen Luftmassen entsteht Reibung. Dies erzeugt Winde, die immer stärker werden bis sie zu einem Sturm oder gar einem Hurrikan herangewachsen sind. Diese Winde kommen dann über das von uns bewohnte Gebiet und hinterlassen tiefe Spuren. Sie zwingen uns, uns den neuen Gegebenheiten anzupassen. Jedoch entstehen diese Stürme meist auf dem offenen Meer und nicht in der Mitte der zivilisierten Umgebung.
Was ich damit sagen möchte, ist nichts Neues, jedoch etwas das in der Bildenden Kunst vielleicht schon eher angekommen ist, während es im Theater seit Jahren nur diskutiert wird. Auch auf den Fluren und sogar in den Diskussionen zum Theatertreffen habe ich die Erkenntnis schon gehört:
Das Neue entsteht am Rande der Gesellschaft.
(Schorsch Kamerun 08.05.2014 zur Camp Eröffnung)
Aber irgendwie juckt das in den heiligen Hallen der darstellenden Kunst keinen. Das bisher Gesehene war Guckkastentheater par Exzellenz! Es wäre den Stücken doch vollkommen egal gewesen, ob ich da bin oder nicht! Aber so geht die Wahrnehmung doch nicht mehr. Die Bühne ächzt vor alten Texten, die künstlich in neue Räume gesteckt werden und einen Hippster-Pulli angezogen bekommen, wie sie Gervasius und Protasisu in Susanne Kennedys Münchner Inszenierung „Fegefeuer in Ingolstadt“ tragen. Aber was ist der neue Text, der so entstehen soll? Die Radikalität der Interaktion besteht im Federballspielen von Elena mit EINEM Zuschauer, als kleine Lachnummer am Anfang von „Onkel Wanja“, sonst nichts! Sonst werde ich mit meiner Langeweile allein gelassen. Das einzige Stück, das interagiert, „Situation Rooms“ von Rimini Protokoll, kann aus strukturellen Problemen des Theatertreffens nicht gezeigt werden. Aus terminlichen Gründen, wie mir Daniel Wetzel von Rimini Protokoll, denn der der Planungszeitraum, also die kurze Frist zwischen Einladung und dem Theatertreffen, ist mit modernen Tourplänen nur schwer vereinbar. So werden Produktionen dieser Art auch weiterhin meist fernbleiben müssen.
Ich will angesprochen werden! In meiner Wirklichkeit möchte ich abgeholt werden. Das Ttheatertreffen aber bewegt sich zu langsam und zuckt zu spät. Wir stehen am Rande der Aufgabe unserer Grundrechte. Wer zum Beispiel an einer Sitzblockade gegen Nazis teilnimmt, ist ein linker Terrorist; wer für die Netzneutralität einsteht, hat etwas zu verbergen und Onkel Wanja hat nix Besseres zu tun, als sich selbst zu bemitleiden? Es ist Zeit aufzuwachen.
Hallo Theatertreffen, hallo Theater, ich bin kein Teil eurer Welt, und ich bin desillusioniert von dem, was ihr mir auf dem Theatertreffen vorlebt. Ich will inspiriert sein von dem, was ihr zu sagen habt, und es gibt ja Regisseure und Produktionen, die mir etwas zu sagen haben. Das was ich hier sehe ist jedoch so verstaubt und hat mit der Realität, in der ich mich bewege, wenig zu tun. Wenn das Theater nicht mehr inspirieren kann – es gibt genügend Orte, die gleichzeitig und zeitgemäß um meine Aufmerksamkeit buhlen. Dann gehe ich halt dahin. Und vermutlich interessiert es euch überhaupt nicht, dann seit ihr unter euch und werdet nicht mehr so missverstanden.
Die Berliner Zeitung ist Partner des Theatertreffen-Blogs.
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