Einfach mal draufhalten

Am zweiten Festivalabend erlebte unser Kritiker bei Daniela Löffners „Väter und Söhne“-Adaption ein intimes Fest der Schauspielkunst - und war begeistert.

Am Deutschen Theater Berlin hat die Regisseurin Daniela Löffner die Spielenden in ihrer Turgenjew-Adaption „Väter und Söhne“ an einem großen Esstisch versammelt – und das Publikum drumherum, extrem nah, quasi auf Tischtuchfühlung. Der Inszenierung brachte das eine Theatertreffen-Einladung. Zu Recht?

Der Plattenspieler steht im Weg, ich stolpere fast drüber beim Gang quer über die Bühne zu meinem Platz. Schnell das Umfeld begrüßen, die zwei älteren Damen zur Linken, Theatertreffen, schon mal hier gewesen?, jaja, natürlich, schon ganz oft, dann den jungen Herrn zur Rechten, nein nein, das erste Mal, sehr aufgeregt, und dann kommen schon die Schauspieler auf die Bühne, und es ist gleich klar: Es wird intim.

Intim, weil in der Mitte gespielt wird und wir, die Zuschauer, drumherum sitzen und die Schauspieler nicht nur von vorne, sondern auch von hinten sehen. Intim, weil wir uns auch gegenseitig ständig sehen, da das Publikum entweder gezielt bestrahlt oder beiläufig vom Streulicht erfasst wird. Intim, weil die Schauspieler gar nicht ab gehen, sondern sich auf Stühle in der ersten Reihe zwischen uns setzen, wenn sie mal keinen Auftritt haben und also vier Stunden ihre Präsenz halten müssen, denn der Blick des Zuschauers ist gnadenlos.

Und schließlich: Intim, weil die Bühne so verdammt klein ist. Vielleicht sieben mal sieben Meter, Holzbretter, ein Esstisch, Stühle und zwei Blumenkübel mit riesigen, in die Höhe ragenden Luftballons, die nach der Pause dann zerplatzt sind. Meine Entfernung zu den Schauspielern beträgt im geringsten einen, im größten Fall zehn Meter, man sieht: alles. Wie sich Fenitschkas zarte Hände krampfhaft ineinander verschränken und sie sich auf der Lippe kaut; wie ihre Augenlider zugleich ängstlich und erregt flattern können (Lisa Hrdina). Anna Sergejewnas weißen BH, der sich durch die hell-schimmrige Seidenbluse durchdrückt und so gut ihren Charakter zum Ausdruck bringt (Franziska Machens): Die Verheißung wartet hinter der eleganten Fassade, aber wie reiße ich die ein, und will ich das überhaupt? Die beiden Adern, die sich auf Arkadijs Stirn einen Wettkampf liefern; sein ausgemergeltes Gesicht, aus dem die Augen starren wie Läufe von Maschinengewehren und seine gespreizten Hände, die er aufgeregt an seinem Hosenbein abwischt, wenn er zu diskutieren beginnt (Marcel Kohler). Katerinas muskulösen Rücken, der so gar nicht passen will zu ihrem mädchenhaften Kleidchen, den aufgeklebten Kinder-Tatoos, dem geflochtenen Zopf, der ihr aber genau dadurch diese manische Unberechenbarkeit verschafft und die alles zerstörende Energie ahnen lässt, die da schlummert, gegen sich selbst und alle Anderen einsetzbar (Wiebke Mollenhauer).

Nihilisten sind heiß, aber nervig

Ach ja, worum geht’s eigentlich? Um den Roman „Väter und Söhne“ von Iwan Turgenjew, vom irischen Dramatiker Brian Friel 1997 für die Bühne bearbeitet und jetzt von Daniela Löffner in den Kammerspielen des Deutschen Theaters inszeniert. Um Arkadij, der sein Studium abgeschlossen hat und daher seine Eltern besucht, allerdings mit seinem neuen Freund Jewgenij, der sich Nihilist nennt und die Familie mit seiner revolutionären Arroganz in den Wahnsinn treibt (vornehmlich die Männer) oder verzückt (vornehmlich die Frauen). Um den Anspruch der Jugend auf die Welt und die unabweisbare und auch nur schwer beiseite zu schaffende Tatsache, dass die Alten aber nun mal auch noch da sind. Am Ende ist einer tot und die anderen wissen nicht richtig, ob sie traurig oder erlöst sein sollen.

Nach der pompösen Eröffnung mit „Schiff der Träume“ im Haus der Berliner Festspiele, wo man, wenn man im Rang sitzt, Gesichtszüge bestenfalls erahnen kann, kommt nun also, als zweite Premiere, dieses ruhige, unaufgeregte Fest der Schauspielkunst. Dort konnte man überlegen und mit sich ringen, die eigenen Werte hinterfragen und sich ständig mit sich selbst überwerfen. Hier kann man vor allem gucken. Hinschauen. Bewegungen verfolgen, Blicke aushalten, sich selbst im Spiegel des Gegenübersitzenden sehen und sich langsam fragen, was passieren würde, wenn man im echten Leben auch so achtsam wäre. Es wäre schrecklich. Im Theater ist es toll.

Väter und Söhne
Von Iwan Turgenjew (1863), Bühnenfassung von Brian Friel (1997)
Deutsch von Inge und Gottfried Greiffenhagen, Fassung von Daniela Löffner und David Heiligers
Regie: Daniela Löffner, Bühne: Regina Lorenz-Schweer, Kostüme: Katja Strohschneider, musikalische Einstudierung: Katharina Debus, Ingo Schröder, Licht: Marco Scherle, Dramaturgie: David Heiligers
Mit: Marcel Kohler, Alexander Khuon, Helmut Mooshammer, Oliver Stokowski, Bernd Stempel, Katrin Klein, Lisa Hrdina, Franziska Machens, Kathleen Morgeneyer, Elke Petri, Hanna Hilsdorf, Markwart Müller-Elmau, Benjamin Radjaipour
Dauer: 4 Stunden, eine Pause

https://www.deutschestheater.de

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Xaver von Cranach

Studiert Literaturwissenschaft. Er schreibt u.a. für das Literaturkritik-Blog tausendmrd und Spike Art Magazine

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