„Programme! Programme!“

Was die Programmhefte der eingeladenen Stücke so in sich haben
Stimmgewaltige Ausrufer sind dabei: als wären sie Sänger bei der Erprobung ihrer Sprechstimmen. „Programme, Programme“, rufen sie dem vorbei strömenden Publikum der Opéra Bastille zu. In Paris herrschen gänzlich andere Verhältnisse, als in der Heimat des Protestantismus. Dass man diese Drucksachen von fast enzyklopädischem Kaliber Programme nennt, ist eine glatte Untertreibung. Es sind Bücher, die man sich von einem unvergesslichen Abend mit nach Hause nimmt und ins Regal stellt. So stehen die Ausrufer auch noch nach der Vorstellung etwas erhöht hinter ihren eigens dafür gefertigten Tresen und verkaufen vom Stapel weg – für zwölf Euro das Stück. Man hört noch die Rufe, wenn man schon auf dem Weg zur Metro ist.
Acht Stunden Faust begleiten 100 Seiten Programm
Die gedruckten Programme der zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen könnten unterschiedlicher nicht sein – untereinander und im Vergleich zum beschriebenen französischen Modell. Von kostenlos und kopiert bis zum gestandenen 100-Seiten-Taschenbuch zu sieben Euro.
Diesen Toppreis kostete das Programmbuch der Salzburger Festspiele zum Faust, dicht gefolgt von der Hamburger Ausgabe zur gleichen Inszenierung für fünf Euro. Inhaltlich fast identisch. Beide Bücher sind 100 Seiten stark und bieten dem geneigten Leser ausführliches Hintergrundmaterial und ein Interview mit dem Regisseur Nicolas Stemann. Der Salzburger Ausgabe fehlt der siebte Textbeitrag, dafür sind dort die Beteiligten ausführlich mit Bild und Biografie gewürdigt. Man hat also gut Lesestoff, wenn man nach acht Stunden Faust-Marathon noch nicht genug hat.

Die beiden Programmbücher für Faust I + II. (links: Thalia Theater Hamburg, rechts: Salzburger Festspiele). Foto: Gudrun Pawelke

Die beiden Programmbücher für Faust I + II. (links: Thalia Theater Hamburg, rechts: Salzburger Festspiele). Foto: Gudrun Pawelke


Ein Stück, zwei Programmhefte
Ein und dieselbe Inszenierung wird also an zwei verschiedenen Spielorten ganz unterschiedlich kommuniziert. „Look and Feel“ könnten unähnlicher nicht sein. Das muss am Publikum liegen. Oder an der Programmatik der Intendanten? Der Salzburger Zuschauer hat für seine Eintrittskarte schon mehr bezahlt als der Hamburger, da darf das Programmheft ruhig zwei Euro teurer sein. Auch hat der Salzburger gerne den Text augenfreundlich und optimal lesbar, das muss gar nicht trendig sein, wie in Hamburg, das darf solide, klassisch, zweispaltig gesetzt sein. Dass trotz sperriger Thalia-Optik dann doch genauso viel, an Bild und Text, auf den 100 Seiten untergebracht ist, erstaunt. Auch mögen die Hamburger die halbfette Anmutung ihrer Hausschrift mitunter in langen Zeilen (bis zu 70 Zeichen). Insgesamt ist es den Hamburgern also offenbar leichter, das Bewährte hinter sich zu lassen. Den Salzburgern reicht die postdramatische Beunruhigung beim Theatergucken.
Doppelseite des Salzburger Programmheftes. Foto: Gudrun Pawelke

Doppelseite des Salzburger Programmheftes. Foto: Gudrun Pawelke


Die gleiche Doppelseite in der Thalia-Theater-Ausgabe. Foto: Gudrun Pawelke

Die gleiche Doppelseite in der Thalia-Theater-Ausgabe. Foto: Gudrun Pawelke


Der Entstehungsdruck
Generell sind Programmhefte eine Herausforderung für die Theater. Zeitlich wie inhaltlich. Sie müssen gedruckt zur Premiere vorliegen und die Budgets werden immer kleiner. Die Arbeit an der Inszenierung ist also noch im vollen Gange, wenn die Dramaturgie sich um die Entwicklung des Programmheftes kümmert. In den meisten Fällen versuchen die Theater den Eindruck zu erwecken, dass alles schon fertig sei. Das Programmheft soll auch für alle weiteren Vorstellungen funktionieren. Aber könnte man mit diesem vermeintlichen Mangel auch kreativ umgehen? Könnte es für Zuschauer nicht spannender sein, wenn sie einen „Work-in-Progress-Bericht“, eine Art „Making-Of“, in Papierform bekämen. Man könnte einen werkbezogenen Blick hinter die Kulissen, einen Einblick in den Arbeitsprozess gewähren. Bei Publikumsgesprächen kommt oft die Frage: Wie muss man sich konkret die Zusammenarbeit zwischen Regie und Bühnenbild vorstellen? Solches und ähnliches könnte man in einem Programmheft illustrieren. Auch gibt es Bühnenbildner und Dramaturgen, die mit „Mood-Boards“ arbeiten, die sicher optisch interessant wären. Und die Inszenierungsfotos sind natürlich Probenfotos, also darf man es ihnen auch ansehen. Hier braucht es nur den Mut zum Unperfekten.
Von links nach rechts: Theater Bonn Programm-Leporello, Münchner Kammerspiele geheftete Broschüren. Foto: Gudrun Pawelke

Von links nach rechts: Theater Bonn Programm-Leporello, Münchner Kammerspiele geheftete Broschüren. Foto: Gudrun Pawelke


Programmblätter
Genau diese Herausforderung des „noch-Nichts-in-der-Hand-Habens“ lösen Volksbühne und HAU damit, dass sie dem Zuschauer im Grunde den Abspann liefern. Bei der Volksbühne werden alle Beteiligten genannt, vielleicht gibt es noch ein Zitat, der Rest ist Kunst und kann als A3 Poster verwendet werden – zu 1,50 Euro das Stück. Man lässt also alles Erläuternde und Erklärende einfach weg. Das HAU liefert immerhin Deskriptives zum Stück und zu den Beteiligten – kostenlos zum Mitnehmen. „Das reicht doch nicht. Das reicht mir einfach nicht“, sagt Fabian Hinrichs in „Kill your Darlings!“. Ob er damit die Programmblätter der Volksbühne meint, bleibt an der Stelle offen. Viel ist es jedenfalls nicht, was dem Zuschauer stückbegleitend geboten wird.
Von links nach rechts: Volksbühnen-Programm-Faltblatt, HAU Programmzettel. Foto: Gudrun Pawelke

Von links nach rechts: Volksbühnen-Programm-Faltblatt, HAU Programmzettel. Foto: Gudrun Pawelke


Innenseite Programm-Faltblatt „Die s(p)anische Fliege“ mit einer Kunst-Kollage und möglicherweise tieferem Sinn. Foto: Gudrun Pawelke

Innenseite Programm-Faltblatt „Die s(p)anische Fliege“ mit einer Kunst-Kollage und möglicherweise tieferem Sinn. Foto: Gudrun Pawelke


Was man für sein Geld bekommt
Die anderen Programmhefte liegen zwischen den faustischen Dimensionen und dem kostenlosen Programmblatt beim HAU. In Wien hat man für 2,80 EUR die größte Ausbeute und das beste „Preis-Leistungs-Verhältnis“ bei 64 Seiten dicht gepackten Inhalts und jeder Menge Fotos im Vierfarbdruck. Ebenso wie das Thalia Theater Hamburg wird in Wien auf Naturpapier gedruckt, was nicht nur den Händen schmeichelt, sondern auch umweltfreundlicher im Herstellungsprozess ist.
Platonov-Programmbuch: Titel und Doppelseite mit Hintergründen zur Stückentstehung. Foto: Gudrun Pawelke

Platonov-Programmbuch: Titel und Doppelseite mit Hintergründen zur Stückentstehung. Foto: Gudrun Pawelke


Programme halten fest, was flüchtig ist
Nicht nur die Inszenierungen, auch die Programmhefte bilden also die bunte Vielfalt der Theaterlandschaft ab. Man möchte den Dramaturgen mehr Zeit, Möglichkeiten und Ideen wünschen, die sie jenseits der Inszenierung haben mögen. Denn wenn das Licht ausgeht, ist für den Theaterbesucher der Abend noch lange nicht vorbei. Hoffentlich trägt er die bewegenden Momente in seinem Herzen und ein Programm als Erinnerungsstück in seiner Tasche. Wenn Programmhefte liebevoll hergestellt und wertig gemacht sind, wandern sie ins Regal und nicht in die Recyclingtonne. Wie sagte schon Goethe zum Thema Programmhefte: „Alles Vergängliche. Ist nur ein Gleichnis; Das Unzulängliche. Hier wird’s Ereignis.“ Es scheint also auch schon vor 200 Jahren manches im Argen gelegen zu haben.
Das Hate-Radio-Programm: 46-Seiten-Magazin mit umfassendem Hintergrund zum Genozidi in Ruanda. Foto: Gudrun Pawelke

Das Hate-Radio-Programm: 46-Seiten-Magazin mit umfassendem Hintergrund zum Genozidi in Ruanda. Foto: Gudrun Pawelke

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Gudrun Pawelke arbeitet seit vielen Jahren im Bereich der Kulturkommunikation, war und ist für große Häuser und kleine Produktionen kommunikativ beratend tätig und: brennt für Theater. Sie unterrichtet und gibt Workshops zum Thema Gestaltung, Kreativität und Inszenierung von Information. Sie schreibt für Fachmagazine und ist seit 1996 Mitglied im Type Directors Club New York.

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