„Ich glaube nicht, dass die Leute von der Ideologie zum Politikmachen verführt werden.“ Auf eine Zigarette mit Luk Perceval

Meine Kritik zur gestrigen TT Premiere von „Jeder stirbt für sich allein“ ist scharf ausgefallen. Ob Luk Perceval, der Regisseur dieser Bühnenversion des Romans von Hans Fallada, sie schon gelesen hatte, als wir uns heute im Garten des Hauses der Berliner Festspiele trafen, weiß ich nicht. Ich fasse mich kurz: „Ich habe mir mehr erhofft“, überwinde ich mich zu sagen, und: „Ich war nicht so glücklich“. Keine leichte Übung, diese Begegnung, um ehrlich zu sein. Ich schalte das Aufnahme-Gerät ein. Während ich rauche, isst Luk Perceval eine Birne.

Luk Perceval im Gespräch im Haus der Berliner Festspiele. Foto: Piero Chiussi

Luk Perceval im Gespräch mit Gästen im Haus der Berliner Festspiele am Premierenabend seiner Fallada-Adaption beim Theatertreffen 2013. Foto: Piero Chiussi

Clemens Melzer: Es gibt ja viele Inszenierungen über die NS-Zeit. Was gibt es dazu überhaupt noch zu sagen?
Luk Perceval: Was diesen Text von anderen unterscheidet, ist, man fühlt sich angesprochen: Was würde ich machen in der Situation? Er sagt nicht: Die bösen Nazis, die wie Aliens zwischen ’33 und ’45 Deutschland besetzt haben, sondern erzählt, wie jeder aus einer Art von Egoismus dieses System ausgenutzt hat, wie das System wiederum die Angst der Leute ausgenutzt hat und dass es schwierig war, dem System zu entkommen. Und er entscheidet sich deutlich vom Culpabilisieren der Alten. Es geht in diesem Text vielmehr um die Identifikation mit den Leuten damals.

CM: Wenn Sie sich die Nazis in „Jeder stirbt für sich allein“ anschauen: Gibt es ähnliche Typen auch noch in der Gegenwart?
LP: Ja, klar. Ich sehe, dass wir in einer Zeit leben, in der die Angst total kultiviert wird, die Angst vor dem Terror, die Angst vor dem wirtschaftlichen Scheitern. Und wir leben in einer Welt, in der wir uns extrem unter Kontrolle fühlen. Der Unterschied zu der [NS-]Zeit ist, dass man damals wusste: Das sind Hitler, Himmler, Goebbels. Die hatten Gesichter. Heute gibt es keine Gesichter mehr. Wer ist Google? Wer ist der deutsche und amerikanische Sicherheitsapparat? Was kontrolliert uns eigentlich? Also, das ist, glaub ich, der einzige Unterschied zu der Zeit.

CM: Noch mal zum Text: Denken Sie nicht, dass der Text im Grunde entpolitisiert ist? Es geht um Einzelschicksale. Die Quangels leisten nur Widerstand, weil ihr Sohn im Krieg gestorben ist, es geht nicht um die faschistische Ideologie …
LP: Ich glaube nicht, dass die Leute Politik machen, weil sie von der Ideologie verführt werden. Ich glaube vielmehr, dass unser politisches Handeln uns durch das eingegeben ist, was wir im Leben erfahren, durch den Schmerz, den Frust, mit dem wir konfrontiert werden. Das ist für mich die Basis politischen Handelns: Was ist meine Angst? Wie gehe ich mit meiner Angst um? Die Slogans der Politik und der Religion sind irrelevant, glaube ich. Es gibt ja im Moment den Trend in Europa, extrem rechts zu wählen, in Belgien, Holland zum Beispiel. Das ist nicht so, weil diese Leute, die jetzt plötzlich extrem rechts wählen, auch so denken. Das hat vielmehr damit zu tun, dass diese Leute nicht mehr an Politiker glauben, aus der Unzufriedenheit mit der Demokratie heraus. Aber das hat gar nichts mit der Ideologie dieser Parteien zu tun.

Die Zigarette ist runtergeglüht, die Birne abgegessen. Ich bin alles andere als überzeugt, aber darum geht es jetzt ja nicht. Wir gehen verschiedener Wege, die zweite Aufführung von „Jeder stirbt für sich allein“ steht an.

Nachbemerkung: 2010 hat die TT-Bloggerin Anna Pataczek Luk Perceval für eine andere Fallada-Adaption auf eine Zigarette getroffen: Damals ging es um Kleiner Mann – was nun? und die damals allgegenwärtige Krise.

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Clemens Melzer lebt in Berlin, wo er Germanistik und Theaterwissenschaft studiert.

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