„Stören ist eine Qualität.“ Skype-Interview mit Jérôme Bel

20 Minuten Zeit für ein Interview mit Jérôme Bel, dem Regisseur von „Disabled Theater“. Dazu auf Französisch und per Skype. Mehrere Gründe, gleich zur Sache zu kommen.

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TT-Blogger Clemens Melzer beim Skypen mit Jérôme Bel im Besprechungsraum, Haus der Berliner Festspiele. Foto: Nikola Richter

Clemens Melzer: Sie arbeiten mit professionellen Schauspielern zusammen. Warum interessieren Sie sich so sehr für ihre Biographie, ihre Probleme? Warum beispielsweise sollen sie nach vorne treten und sagen: Ich bin behindert?
Jérôme Bel: Für mich war das Wichtigste, dass sie selbst ihre Behinderung benennen, dass das nicht von außen geschieht. Und dass sie sagen, wie sie sich fühlen.

CM: Haben die Schauspieler also die Wahl gehabt, das zu sagen?
JB: Kommt gar nicht in Frage. Ich habe selten Stücke gesehen, in denen die Wahl, was für Sachen gemacht werden, bei den Schauspielern liegt. Ich bin der Regisseur, und ich stelle Fragen, die mich interessieren, so wie ich das seit Jahren mit Schauspielern mache und die Schauspieler antworten. Das ist alles.

CM: Hat sich während der Probenzeit Ihr Blick auf die Schauspieler verändert?
JB: Ja, natürlich. Ich hatte vorher keinerlei Erfahrung in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung. Ich habe somit viel, viel gelernt, über sie und übers Theater.

CM: Warum haben Sie als Titel Disabled Theater gewählt?
JB: Ich bin ausgegangen von zwei Parametern: Dem alltäglichen Theater und der Tatsache, dass Menschen mit Behinderung auf der Bühne stehen. Da wir eine Teilnahme an mehreren internationalen Festivals planten, mussten wir sehr früh einen Titel finden. Das ist für mich immer extrem nervig, weil ich experimentelles Theater mache und nicht vorher weiß, was ich mache. Ich denke, der Titel bestimmt mit, wie die Zuschauer die Aufführung analysieren werden. Sie erwarten vielleicht ein behindertes Theater, ein schwaches Theater. Aber am Ende ist Disabled Theater ungemein kraftvoll. Es beginnt dramaturgisch mit der Schwäche, weil ich nicht weiß, wer die Schauspieler sind, ich bin sehr vorsichtig, und dann, Stück für Stück, zeigen sie ihre Fähigkeit, Dinge zu sagen, vor allem durch den Tanz. Ich sehe darin nichts Problematisches, dass wir mit „Disabled Theater beginnen und dann bei, sagen wir, Extraordinary Theaterrauskommen.

CM: Würden Sie dem Stück jetzt einen anderen Titel geben?
JB: Nein. Ich würde diesen Titel behalten, aber am Ende geschieht etwas anderes. Glücklicherweise ist ja ein Titel nicht die ganze Aufführung. Was am Ende passiert, halte ich für einen enormen Erfolg, weil die Schauspieler eine Qualität von Offenheit und von Verlangen aufzeigen, die man so schnell im Theater und Tanz nicht wiederfindet. Sie stellen die Frage: Was ist der Tanz? Was ist das für ein Verlangen zu tanzen?

CM: Wie sehen Sie den Bezug zu anderen Stücken von Ihnen, beispielsweise zu The Show must go on“?
JB: Das Stück reiht sich natürlich ein in meine vorherigen Arbeiten und bringt mich wesentlich weiter in meiner Suche. Es ähnelt auf der einen Seite The Show must go on, weil wir eine Gruppe haben und Pop-Musik und auf der anderen Seite haben wir biographische Elemente. Das ist meine übliche Strategie. Ich mochte aber sehr, dass sie meine Arbeit beeinflusst, gestört haben. Für das experimentelle Theater ist das Stören eine Qualität. Menschen mit Behinderung stellen für die Mehrheit der Gesellschaft eine Störung dar, weil man sie nicht kennt. Auch ich wollte diese Arbeit zunächt nicht machen, weil ich Angst hatte, Angst vorm Unbekannten. Inzwischen sind die Schauspieler zu Stars geworden, machen Foto-Shootings, sind im Fernsehen, geben Interviews.

CM: Werden Sie auch in Zukunft mit Schauspielern mit geistiger Behinderung Stücke machen?
JB: Wahrscheinlich nicht. Aber letzte Woche habe ich meinem Caster für The Show must go on in Zürich gesagt, er solle zwei Schauspieler des Theater HORA in das Stück integrieren. Und ich bin sehr glücklich mit dieser Entscheidung. Als ich The Show must go on 2001 inszenierte, wäre ich nie auf die Idee gekommen.

Heute Abend, Samstag, den 11.5. und morgen, Sonntag, den 12.5. jeweils um 17:00 Uhr läuft „Disabled Theater“ im HAU 1. Lesen Sie hier ein Interview mit Damian Bright vom Theater HORA in Zürich, der bei Disabled Theater mitspielt, und hier eine englischsprachige Auseinandersetzung mit der Darstellung von geistiger Beeinträchtigung auf der Bühne.

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Clemens Melzer lebt in Berlin, wo er Germanistik und Theaterwissenschaft studiert.

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