Titel, Autor, Entstehungsjahr: „Jeder stirbt für sich allein“ von Hans Fallada, 1947 (zweite Vorstellung heute Abend, 7. Mai)
Handlung: Das Berliner Ehepaar Quangel leistet zwischen 1940 und 1942 Widerstand gegen den „Führer“, indem es Postkarten in Treppenhäusern verteilt, wird schließlich eingesperrt und umgebracht.
Erster Satz: Die Briefträgerin Eva Kluge steigt die Stufen im Treppenhaus Jablonskistraße 55 hoch.
Regisseur: Luk Perceval, dritte Einladung zum TT
Bühne: Thalia Theater Hamburg
Spielstätte beim TT 2013: Große Bühne im Haus der Berliner Festspiele
Als sie die Postkarte erblicken, brüllen sie. Gerade noch im Gespräch über die Schwierigkeit, als Schauspieler unter Propagandaminister Goebbels zu arbeiten, überdrehen die Karikaturen von Anwalt und Schauspieler, schieben sich verzweifelt gegenseitig die Postkarte zu, rudern mit den Armen, werfen sich auf den Tisch in der Mitte der Bühne, pressen mit rotem Hals und unter Speichelregen Tränen raus, hecheln, den Mund aufgerissen. Auf der Postkarte steht die Aufforderung, weniger zu arbeiten, um den Krieg schneller zu beenden. Griffe man nur diese kurze Szene aus Luk Percevals Inszenierung von „Jeder stirbt für sich allein“ heraus, die gestern beim Theatertreffen 2013 ihre Berlin-Premiere erlebte, hätte man klobiges Volkstheater, ohne viel Rhythmusgefühl und Originalität. Das wäre besser gewesen als vier zähe Stunden Erschütterungstrash.
Die Vorlage, Hans Falladas Widerstandsroman gleichen Titels, 1947 in wenigen Wochen runtergeschrieben, erzählt Geschichten „einfacher Leute“ im Nationalsozialismus. Er ist nicht nur sprachlich schlecht, sondern auch inhaltlich eine Zumutung. Auf Einfühlung bedacht, beschwört er unaufhörlich die Zwänge und Nöte, denen die Protagonisten in Zeiten des Krieges ausgesetzt sind, zeigt die Arbeiter und Kleinbürger Berlins als unbedarfte, unpolitische Kämpfer ums Überleben, die sich alle mal von einer schwachen Seite zeigen. Akribisch werden die unterschiedlichen Grade der Rechtschaffenheit aufgezählt: Man erfährt ständig, wie viel der eine arbeitet oder der andere trinkt, dazwischen tauchen immer wieder Sätze auf wie: „[Sie] ist gar nicht politisch interessiert, sie ist einfach eine Frau“, oder: „was Böses getan haben die beiden alten Leute sicher nie jemandem“. In diesem Setting werden Otto und Anna Quangel zu Märtyrern, nachdem sie ihren Sohn im Krieg verloren haben. Sie beginnen Postkarten zu schreiben, in der sie ihre Wut über den „Führer“ kundtun, werden schließlich verhaftet und ermordet.
Luk Perceval hält sich treu an die Vorlage, bricht mit keiner der moralischen Zuschreibungen, holt alle Langweiligkeiten und Klischees, nicht zuletzt stereotypisierte Geschlechterrollen (die aufopferungsvolle Hausfrau, die hysterische Sprechstundenhilfe ohne Mann), mit ins Boot. Jede Bewegung der zweifelsohne tollen Schauspieler, offenbar nicht in bester Tagesform (Versprecher, verpatzte Übergänge, vorübergehende geistige Abwesenheit) klebt der Waschzettel der Regie an, 30 Grad, Schonschleudern: Jedem Rülpser folgt eine Erklärung, nichts darf gleichzeitig passieren – figuratives, biederes Erzählttheater à la carte. Für jeden Gag treffen die Schauspieler aufwändige Vorbereitungen: Blindenstock und Sonnenbrille werden gezückt, um drei Minuten später „Der ist bestimmt ein Bulle!“ bringen zu können. Der Hitlergruß wird dabei zum musikalischen Motiv: Geschätze 50 Mal wird er gelallt, gesäuselt und geschrien, sanft und mit Nachdruck, verzweifelt und eifrig. Es stellt sich Normalität ein, die Normalität der deutschen Vergangenheitsbewältigung, rechtschaffen, erschüttert und entpolitisiert.